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12.07.2023
Stuttgart 21 auf der Zielgeraden
Zu Besuch auf Deutschlands größter Baustelle
Der Hauptbahnhof Stuttgart ist seit über zehn Jahren eine Großbaustelle. Hier entsteht im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 ein unterirdischer Durchgangsbahnhof. Ende Juli wurde die letzte Kelchstütze der neuen Gleishalle ausgeschalt. Wir haben uns vor Ort umgeschaut.
Von Sophie Marthe
Der Zutritt zur Baustelle erfolgt über den InfoTurmStuttgart (ITS), der die Geschichte des Großprojekts Stuttgart 21 auf drei Etagen dokumentiert: Von der Idee des Verkehrswissenschaftlers Gerhard Heimerl zur Einbindung Stuttgarts in den schnellen Bahnverkehr im Jahr 1988 über den Wettbewerb, den 1997 das damalige Düsseldorfer Büro Ingenhoven, Overdiek, Kahlen und Partner in Zusammenarbeit mit Frei Otto (Stuttgart) gewann, bis hin zum symbolgeladenen Baubeginn 2010 beziehungsweise dem eigentlichen Baubeginn 2014 und darüber hinaus. Auch die Proteste gegen das Projekt, die bis heute deutlich nachhallen, werden thematisiert.
Das Ausstellungsmodell macht die gewaltige Transformation deutlich: Der mitten in der Stadt liegende Kopfbahnhof wird nach Plänen von ingenhoven associates zum Tief- und Durchgangsbahnhof umgebaut. Das Dach der Bahnsteighalle soll begehbar sein und einen städtischen Freiraum bilden, während das denkmalgeschützte Bahnhofsgebäude, zwischen 1914 und 1927 nach einem Entwurf von Paul Bonatz errichtet, fast vollständig entkernt wird.
Betonwald unter Tage
Nur ein paar Stufen sind es von der Gästeumkleide der Baustellenbesucher*innen hinunter zur neuen Bahnhofshalle. Dort angekommen, wirkt diese wie ein Betonwald, dessen Kronendach sich über Stützen, die an Blütenkelche erinnern, bis auf den Boden öffnet. Nach oben sind die Kelche durch Stahl-Glas-Konstruktionen verschlossen. So kann Tageslicht in die Gleishalle dringen. Die Stützen sind jedoch nicht nur ein wichtiges Gestaltungsmerkmal, sondern auch wesentlicher Bestandteil der Tragstruktur. Ihre Konzeption geht auf den Ingenieur Frei Otto zurück, der die formgebenden Konstruktionsprinzipien aus seinen Experimenten mit Seifenmembranen ableitete.
Insgesamt 28 dieser Kelchstützen tragen das rund 450 Meter lange und 80 Meter breite Dach. In Anpassung an das Gefälle der Bahnhofshalle von circa 6,5 Meter variiert die Neigung der Kelche ebenso wie die Länge ihrer Füße. Das fugenlose Schalendach besteht aus Weißbeton und ist auf einen Trog aus Normalbeton aufgesetzt – die Schalenstruktur gilt als Novum, denn sie setzt sich aus antiklastisch gekrümmten Flächen zusammen, die mathematisch betrachtet eine Freiform bilden. Seit 2009 ist das Stuttgarter Büro Werner Sobek zusammen mit der Ingenieurarbeitsgemeinschaft Tragwerksplanung S21 Hauptbahnhof für die Tragwerksplanung verantwortlich.
Von der Musterstütze zum Sonderkelch
Auf einer Hebebühne in der Halle steht ein Arbeiter, der den weißen Sichtbeton mit einem Gemisch aus Steinmehl und Wasser nachbehandelt, einzelne Teile der Schalung liegen aufgeräumt an der Seite. Sie sind aus Vollholz gefräst und mit einer Mischung aus Harzen beschichtet. Rund 550 dieser Elemente bildeten die Schalungskonstruktion einer Stütze, teils wurden sie mehrfach wiederverwendet.
In jeder der Stützen stecken rund 300 bis 350 Tonnen Bewehrungsstahl in Form von circa 22.000 Eisenstäben, die vor Ort von einem Team von Eisenflechtern verlegt wurden. Betoniert wurde in drei Abschnitten: zunächst der sich nach unten verjüngende Kelchfuß, dann die ausladende Kelchschale sowie die Kelchhutze – insgesamt circa 685 Kubikmeter Spezialbeton sind je Stütze verbaut. Die Auswahl und Zusammensetzung der Materialien ebenso wie Prozesse und Techniken wurden vorab anhand einer Musterstütze erprobt. Die Fertigung der ersten Kelchstütze brauchte noch rund ein Jahr, während die übrigen im Schnitt in je zwei Monaten errichtet werden konnten.
Für den Zugang zur Bahnhofshalle wurde ein Sonderkelch entworfen. Um 180 Grad gedreht, sollen künftig ein Aufzug sowie Treppen durch ihn hindurch direkt zu den Gleisen führen. Eine weitere Herausforderung ergab sich aus der Tatsache, dass genau in diesem Bereich unter der Gleishalle der S-Bahn-Tunnel verläuft, den es lastenfrei zu überbrücken galt. Dazu wurde eine circa 30 Meter lange Spannbetonbrücke errichtet, auf der der Sonderkelch steht.
Ein Ausblick
Der neue Tiefbahnhof ist das zentrale Bauwerk des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm, das die Ende 2022 in Betrieb genommene Neubaustrecke Wendlingen–Ulm und die komplette Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart umfasst. Ziel ist die Verbesserung des Hochgeschwindigkeitsnetzes in Baden-Württemberg, auch soll damit der von der Bahn anvisierte „Deutschland-Takt“ ermöglicht werden. Die Inbetriebnahme des Bahnhofes ist für das Jahr 2025 geplant, der Kostenrahmen wird derzeit mit 9,8 Milliarden Euro beziffert.
Fotos: HG Esch, Arnim Kilgus, Achim Birnbaum, Malte Hombergs, Jannik Walter
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