Für viele spätere Architekten ist der ohne Absetzen gezeichnete Aufriss des „Haus vom Nikolaus“ die erste zeichnerische Auseinandersetzung mit dem klassischen Giebelhaus. Dieser Urtyp, eine Kiste mit spitzem Satteldach, beschäftigt die Menschen schon so lange sie das Dach über dem Kopf selber planen.
So findet man das „Nikolaushaus“ schon ca. 5000 v. Chr. in den Valamonica-Felsenritzungen bei Brescia oder als Negativabdruck im Zentrum der Cheopspyramide: Die Ägypter bestatteten ihre Pharaonen im Volumen eines Satteldachhauses und vernichteten allen Raum darum durch eine massive Pyramide – die Umkehrung des freistehenden Einfamilienhauses als Heimat im Jenseits. Die klassische Moderne hingegen hätte das Satteldach am liebsten zu Gunsten des so viel lässigeren Flachdaches abgeschafft. Das miese Wetter in Mitteleuropa und die unbestreitbaren baukonstruktiven Vorteile einer geneigten Dachkonstruktion haben das verhindert.
In den letzten Jahren besinnen sich viele Architekten ungezwungen und ohne die oft aufgesetzte ironische Brechung der Postmoderne auf den Giebelhaustyp und beweisen damit die Wandelbarkeit des Modells. Grund genug für den Callwey-Verlag und seinen Autor Andreas Vetter, das rege Treiben junger Architekten auf diesem Gebiet zu dokumentieren.
Nach einer knappen Einleitung und einem historischen Abriss werden 30 internationale Wohnbauten vorgestellt, fast ausschließlich frei stehende Einfamilienhäuser.
Die Auswahl der Projekte hat ihren Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum. Man stößt neben vielpublizierten Projekten wie dem Haus in Wandlitz von Heide, von Beckerath, Alberts (Berlin) oder dem Haus Göppner von Bayer Uhrig (Kaiserslautern) auf unbekanntere Projekte. Den roten Faden liefert dabei die ortsspezifische Materialwahl: Von Holz über Putz, Faserzementplatten, Glas, Sichtbeton, Kupferblech, Streckmetallpaneelen, Titanzink-Schindeln und Keramik bis zum Reetdach.
Zu den aufregenderen Projekten gehören die Häuser der jungen österreichischen und Schweizer Architekten. In der Auswahl dabei ist übrigens auch das Büro Innocad aus Graz mit der Casa D in Hartkirchen, unlängst Gesprächspartner in der neuen BauNetz-Reihe „Apple Talk“.
Gemeinsam ist allen Häusern die Durcharbeitung bis ins Detail und die Inszenierung des Giebelmotivs sowohl innen als auch außen: Statt den Raum unterm First zum Dachboden verkommen zu lassen, werden hier hohe Wohnräume unter den Dachschrägen geschaffen, dramatische Treppen eingebaut oder durch große Fenster tiefe Grundrisse belichtet. Die Kür folgt außen, wenn es darum geht, den piefigen Dachüberstand zu vermeiden und die Dachentwässerung so zu platzieren, dass die Aufrisszeichnung der Giebelwand wieder an den Wohnsitz des Nikolaus erinnert – und das Haus zu einer Skulptur wird.
Alle Bauten sind ausgezeichnet fotografiert und in Grundrissen und Schnitten im Maßstab 1:250 mit einheitlicher Darstellung dokumentiert. Zusätzlich wird jedes Projekt durch eine Tabelle mit Angaben wie Grundstücks- und Nutzfläche oder Bausumme vergleichbar gemacht.
Ein durchweg gut gemachter Band zum Stöbern und Nachschlagen, sowohl für Bauherren als auch Architekten. Einziges Manko: Von den vielen schönen Trauflösungen wird leider nur eine im Detail gezeigt – ein baukonstruktives Lexikon darf man hier nicht erwarten. Alles halb so schlimm, schließlich gibt es ja die BauNetz-Infoline „Geneigtes Dach“ .
Henning Sigge
- Moderne Giebelhäuser.
Traditionelle Form – innovatives Konzept
Andreas K. Vetter
Callwey Verlag
ISBN 3-7667-1664-6
160 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
Format: 21,5 x 28 cm
250 Farbabbildungen und 150 Pläne
Preis: 59,95 Euro
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