Im Zentrum von Chicago wurde in der One South Dearborn Street ein neues Hochhaus fertig gestellt. Das meldet die Chicago Tribune am 8. Januar 2006. Der 40-stöckige Turm wurde von Richard Keating und James DeStefano entworfen.
Auf dem Grundstück an der Ecke von Dearborn und Madison Street sollte 1999 das mit 112 Stockwerken höchste Hochhaus der Welt gebaut werden. Nachdem sich diese Pläne zerschlagen hatten, wurde der Entschluss zur Bebauung des prominenten Grundstücks erst gefasst, als der Bauherr, der Immobilienkonzern Hines aus Texas, im Jahr 2003 einen Großmieter gefunden hatte.
Über einer achtgeschossigen Basis mit Foyer, Parkplätzen und Technikräumen liegen die Büroebenen. Die Spitze des Hochhauses setzt die Ost- und Westfassaden bis über die Traufe mit einem texturierten, transluzenten Glasschirm fort.
Der asymmetrische Ausschnitt darin, ca. 30 mal 30 Meter groß, besteht aus sandgestrahltem Glas, das nach innen geneigt ist. Darunter liegt eine Terrasse des zweistöckigen Konferenzraums. Der Ausschnitt wird abends beleuchtet und markiert den Neubau in der Skyline von Chicago.
Die sägezahnförmigen Glastürme über dem schwarzen Granitsockel entlang der Madison Street erinnern an die berühmten Erker des benachbarten Chicago Buildings, das Holabird & Root 1904 entworfen hatten.
Kommentar der Redaktion:
Nachdem Hochhaus-Boxen, für die Chicago berühmt ist, aus der Mode gekommen waren und die besten zeitgenösssichen Hochhausarchitekten von Foster über Childs und Koolhaas bis Calatrava mit rotierenden Grundrissen experimentieren, stellt der Entwurf von Keating und DeStefano eine Rückbesinnung auf die klassische Moderne dar - nachdem auch die Geburtsstadt des modernen Hochhauses zwischenzeitlich mit den drei größten Architekten der Stadt, Helmut Jahn, Thomas Beeby und Stanley Tigerman - recht erfolglos - auf postmodernen Pfaden gewandelt war.
Der klassisch moderne Entwurf für das neue Hochhaus in der Dearborn Street ist kein Zufall: Keating und DeStefano hatten zuvor bei dem Chicagoer Büro gearbeitet, das wie kein zweites auf der Welt die Ideen der europäischen Immigranten der Moderne, allen voran Ludwig Mies van der Rohe, repliziert und massenhaft verbreitet hatte: Skidmore, Owings & Merrill (SOM). Während ihrer Tätigkeit für SOM arbeiteten die beiden in dem schönsten Hochhaus, das SOM jemals entworfen hat: Das Inland Steel Building von 1958, das „midcentury modernist masterpiece“ schlechthin.
Auch wenn ihr Neubau an die große Tradition der Moderne anknüpft, lassen sich bei genauerer Betrachtung Weiterentwicklungen des International Style feststellen: Der Baukörper und das große Auge an der Spitze sind nicht nur - für die Mies'sche Moderne ungewöhnlich - asymmterisch, auch die Dreiteilung des Turms in Fuß, Schaft und Kapitell scheint von der Postmoderne „gelernt“, ohne deren gestalterische Formexzesse zu übernehmen.
Die Bewunderung für die eleganten Proportionen des Inland Steel-Gebäudes, seine feinen Details aus grünem Glas und Edelstahl und seinen innovativen Grundriss spricht aus ihrem Neubau. Um den Blick auf die Nordfassade dieses Juwels nicht zu verstellen, haben sie ihren Neubau von der Dearborn Street zurückgesetzt und so zugleich eine kleine Plaza geschaffen, die im Kontext der Daley-, Chase- und Mies' berühmter Federal Plaza steht.
Ulf Meyer