Von Sophie Jung
Peter Chadwick wird sentimental, denkt er an die gestapelten Betonriegel des Verkehrsministeriums in Georgien (1975). Und der britische Grafikdesigner wird traurig, hört er vom Abriss des Tricorn Centers (1966) von Owen Luder in Portsmouth. Brutalistische Architektur wird geliebt oder gehasst. Chadwick liebt sie, mit der Leidenschaft eines Teenagers, der zwischen den Betontürmen seiner Heimatstadt Middlesbrough zum ersten Mal die Songs von Joy Division hörte. Seither fotografiert er und sammelt Abbildungen von brutalistischen Gebäuden. Dieser visionären Architektur, die ihre Hochphase in den Sechzigern und Siebzigern hatte, widmet er nun einen Bildband. „This Brutal World“ heißt er und er dokumentiert Gebäude von den Zwanzigerjahren bis heute.
Blättert man jedoch durch die 220 Seiten, da zeichnen sich nicht nur die harten Formen, die monumentalen Ambosse, Riegel, gekappten und verkeilten Quader, eben jene brutalen Figuren auf den schwarz-weißen Fotografien ab, die dem Stil seinen Namen gegeben haben. Auch Verschlungenes und Verspieltes nimmt Chadwick in seine Sammlung auf. Dem massiven, kreisrunden Kulturzentrum in Madrid von Fernando Higueras und Antonio Mirò (1988) etwa sitzt eine kleinteilige, kristalline Krone auf. Santiago Calatravas Auditorium in Teneriffa (2003) besteht eigentlich nur aus sphärischen Kappen. Und die georgisch-türkische Grenzstation (2011) von Jürgen Mayer H. hat mit ihrer poppig runden Silhouette nun wirklich nicht mehr viel mit den radikal harten Formen zu tun, auf die der Architekturkritiker Reyner Banham 1966 anspielte, als er in einem Essay den Begriff „Brutalismus“ einführte.
Warum auch diese drei Bauten zu Chadwicks brutalistischer Welt zählen, beschreibt der Brite in seinem Vorwort: „Obwohl die Arbeit vieler, vor allem zeitgenössischer Architekten nicht mehr mit „Ismen“ zu beschreiben ist und sie einem individuellen Stil folgt, sehe ich ihnen einen Ursprung im Brutalismus an.“ So streng schwarz-weiß und vermeintlich dokumentarisch dieser Band also zu sein scheint, „This Brutal World“ ist ein sehr persönliches Buch. Den ohnehin unscharfen Stilbegriff „Brutalismus“ verknüpft Peter Chadwick mit seinen ganz eigenen Beobachtungen einer Architektur, die allgemein das große Format und die kühne Geste in Gebäude umwandelt. Noch freizügiger dekoriert Chadwick seine über den ganzen Globus reichende Zusammenstellung der Bauten mit Zitaten. Lyrics von Leonard Cohen, die Gedankenauswürfe Gerhard Richters und Epochensprüche von Victor Hugo sind die intellektuelle Würze zu Abbildungen vom Whitney Museum (1966) oder dem Barbican Centre (1982).
Man kann dem Herausgeber Peter Chadwick, diesem „Text- und Bildkurator“, viel Selbstverliebtheit unterstellen. Als zu weltläufig und belesen schält sich seine Figur beim Durchblättern von „This Brutal World“ heraus. Ausreichend Tiefe besitzt seine Publikation auch nicht, sucht man nach seriöser Aufbereitung einer gefährdeten Architektur. Vielmehr ist dieser Bildband leichte Kost, ein Coffeetable Book über sehr sperrige Gebäude. Als solches aber ist „This Brutal World“ anregend – schöne Architektur und geistreiche Zitate. Zum Beispiel findet man jene klugen Worte des Pop- und Architekturkritikers Owen Hatherley: „Brutalistische Architektur war eine politische Ästhetik, eine Haltung, eine Waffe, die dem Gefühl gewidmet war, dass für den ganz gewöhnlichen Bürger nichts zu gut ist.”
This Brutal World
Peter Chadwick
Phaidon 2016
Hardcover, 224 Seiten, 320 Schwarz-Weiß-Abbildungen
in englischer Sprache
39,95 Euro
www.phaidon.com
Zum Thema:
Very New Brutalism - die Baunetzwoche#396 zeigt zeitgenössische Interpretationen
Die Initiative SOS-Brutalismus will die bedrohte Architektur schützen