Es sollte ein kleines Haus mit fünf Zimmer werden. Als Fritz und Grete Tugendhat den Architekten Ludwig Mies van der Rohe 1928/29 mit dem Entwurf für ein Wohnhaus im tschechischen Brünn beauftragten, ahnten sie, worauf sie sich einlassen, und hatten dennoch keine Vorstellung, was sie erwarten würde.
Der Architekt, der im selben Jahr den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona gebaut hatte, überraschte das jüdische Unternehmer-Ehepaar mit einem modernen, leichten und schwerelosen Gebäude, in dem die Kinder nicht niesen wollten, aus Angst, es breche sonst zusammen. „Versenkbare Glaswände, pathetische Räume und vor allem diese Noblesse“, schwärmt Ruth Guggenheim-Tugendhat in ihren Kindheitserinnerungen. „Schon damals wusste jeder, dass dieses Haus besonders war.“
Ruth Guggenheim-Tugendhat ist eine von vielen Stimmen, die in dem Dokumentarfilm „Haus Tugendhat“ zu Wort kommen. Regisseur Dieter Reifarth verwebt darin geschickt die Biographie des beeindruckenden Bauwerks mit dem Portrait einer Großfamilie voll an persönlichen Schicksalen. Auch die einflussreichen Tugendhats wurden von den Nationalsozialisten verfolgt und mussten von Tschechien über die Schweiz nach Venezuela fliehen.
Eine Zeit lang blieb ihr schönes Haus, dass die gesamte Familie so geliebt hatten, unbewohnt – es folgt eine abwechslungsreiche Nutzergeschichte. Die deutsche Familie Messerschmidt mietete die Villa Tugendhat für 1.300 Reichsmark und machte es sich dort gemütlich: Eine biedere Bauernstube in der großen Halle war nur eine von mehreren Bemühungen, sich in dem modernen Wohnhaus einzurichten. In den ersten Nachkriegsjahren diente das Haus als private Ballettschule, später dann, von den 1950er bis 80er Jahren wurde es als Therapiezentrum für wirbelsäulengeschädigte Kinder genutzt. Erst seit 2012 ist die Villa Tugendhat saniert und wieder für Besucher zugänglich – für die lebenden Mitglieder der Familie Tugendhat war dies ein mühsamer und langer Kampf. „Wer berühmt ist, gehört sich nicht mehr selbst“ – dies trifft nicht nur auf bekannte Persönlichkeiten, sondern eben auch auf Ikonen der Baugeschichte zu.
Reifarth fügt all diese unterschiedlichen Geschichten, die in der Villa beginnen, diese streifen oder hier enden, zu einem spannenden und facettenreichen Film zusammen. Gespräche mit den noch lebenden Familienmitgliedern und ihren Enkeln sowie den einstigen Benutzern des Hauses, Kunsthistorikern und Restauratoren spannen einen großen Bogen auf; historische Foto- und Filmaufnahmen des Gebäudes werden durch Familienfotos ergänzt und lassen die Villa lebendig werden.
Die Frage, ob man in der Villa wohnen kann, zieht sich durch den gesamten Film und wird mit diesen Fragmenten subtil beantwortet. Spielende Kinder im Garten, eine glückliche Familie auf dem Mies-Sofa oder turnende Mädchen vor der Onyxwand sind stille, schöne Momente in der Biographie dieses Bauwerks. Ergänzt durch die Perspektive der Kunsthistoriker und Denkmalpfleger ist so ein kluger Film entstanden, der weit mehr Themen anspricht, als die Geschichte der Familie Tugendhat und ihrer berühmten Villa.
Der Film „Haus Tugendhat“ will dabei nicht mehr sein, als er ist: eine Dokumentation. Gerade deshalb ist er so gelungen, weil Reifarth es schafft, mit sanften Tönen, leisen Bildern und einem unaufgeregten Tenor ein so großes Spektrum zu eröffnen: Mit Architektur fängt es an, doch spiegeln sich hier alle Aspekte das Leben. (jk)
Haus Tugendhat
Buch, Regie und Schnitt: Dieter Reifarth
Kamera: Rainer Komers, Kurt Weber
Pandora Film, 2013
Der offizielle Kinostart ist am 30. Mai 2013. Nach der gestrigen Premiere in der Neuen Nationalgalerie in Berlin folgen in den nächsten Tagen fünf weitere Vorstellungstermine mit Dieter Reifarth und Ivo Hammer:
- Samstag, 25. Mai um 18.45 Uhr im Orfeos Erben, Frankfurt/M.
- Sonntag, 26. Mai um 11 Uhr im Abaton Kino, Hamburg
- Montag, 27. Mai um 20 Uhr in der Filmpalette, Köln
- Dienstag, 28. Mai um 19.30 Uhr im Apollo, Aachen
- Mittwoch, 29. Mai um 19.30 Uhr im Atelier im Bollwerk, Stuttgart
Kinokarten können direkt bei den jeweiligen Kinos reserviert werden.tugendhat.pandorafilm.de
Zum Thema:
Mehr über die Villa Tugenhat in der Baunetzwoche#259 „Original und Erstaz“ und über Mies van der Rohe in der Baunetzwoche#247 „Rethinking Mies“
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Helmut Schiestl | 15.10.2020 17:43 UhrHätte gerne mehr über die Biographie der Tugendhats erfahren
Kann mich dem Urteil der Redaktion über diesen Film nicht ganz anschließen: Er ist zwar schön gemacht von den Aufnahmen her, hat auch viel zeitgeschichtliche Informationen über die NS-Zeit und die Okkupation der Tschechoslowakei durch die Nazis. Aber leider fehlt im Film eine Off-Stimme, die das Geschehen ein wenig zusammenfassen würde. Vor allem bleibt vieles über die Familie Tugendhat im Dunkeln. So hätte mich interessiert, wie die Familie in der Schweiz und später dann in Venezuela materiell überlebt hat, und warum sie überhaupt nch Venezuela gezogen ist. War dort schon jemand von ihr ansässig, oder gab es dort auch eine Fabrik in ihrem Besitz. Das wären doch wichtige Informationen über die Geschichte dieser Familie, die mit dem Bau dieser Villa ja Kunstgeschichte mitgeschrieben hat.