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27.03.2024

Buchtipp: Achterbahnfahrt durch die Trümmerberge der Geschichte

Architektur in Zeiten der Krise


Kein Wort scheint gegnwärtig häufiger verwendet zu werden als „Krise“. Ob Corona-, Umwelt-, Finanz- oder Flüchtlingsthematik – stets wird daraus diskursiv ein dramatischer Wendepunkt, der in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht. Da ist es beruhigend, wenn ein Buch wie Architektur in Zeiten der Krise sich eher wenig für die Gegenwart interessiert und stattdessen vor Augen führt, dass die „Krise“ ein ständiger Begleiter der gesamten Menschheitsgeschichte (und somit auch der Architektur) ist.

Autorin ist die Architekturhistorikerin Susanne Stacher, die an der Hochschule in Versaille für Architekturtheorie und -praxis zuständig ist. Wer in Versailles lehrt, der beginnt seinen geschichtlichen Rundumschlag selbstverständlich mit der Französischen Revolution und der Revolutionsarchitektur, um sich von dort bis in die Gegenwart durchzuarbeiten. Stacher versammelt dabei Entwürfe höchst unterschiedlicher Maßstäbe, die sie als architektonische oder stadtplanerische Antworten auf Krisen der jeweiligen Zeit reflektiert. Sie möchte nicht weniger, als „die Architekturgeschichte neu auslegen“, indem sie sie durch das „Prisma der Krise“ betrachtete. Um es vorweg zu nehmen: Das gelingt ihr nicht.

Stacher kokettiert das gesamte Buch hindurch mit einer totalen Überforderung der Architektur. Denn sie verlangt nicht weniger von ihr, als „angesichts der bedrohlichen Krisen“ eine „reflektierte und zugleich kreative Haltung einzunehmen, die uns handlungsfähig macht“. Bei Stacher dürfen sich Architekt*innen also noch als heroische Heilsbringer*innen fühlen, die mit einem großen Plan alles besser machen. Über das Scheitern der meisten von ihr vorgestellten Pläne geht die Autorin hingegen galant hinweg.

Um die enorme Bandbreite der Projekte zu sortieren, entwickelt Stacher vier „Figuren“, die in je einem eigenen Kapitel behandelt werden. Das erste Kapitel „Archaismus“ versammelt Entwürfe, die sich auf vergangene und verklärte Epochen beziehen. Im zweiten Kapitel „Zurück zur Ländlichkeit“ geht es mit Ebenezer Howards Gartenstadt oder Bruno Tauts Hufeisensiedlung um die Sehnsucht nach Entschleunigung. Das dritte Kapitel „Schaffen durch Zerstören“ handelt von Projekten, die durch eine gezielte Verstärkung von Krisen diese zu überwinden glaub(t)en – hier reicht der Bogen von den italienischen Futuristen über Le Corbusiers Plan Voisin bis zu Bjarke Ingels „Masterplanet“ von 2020. Und zuletzt geht es unter dem schönen Titel „Wiederverzauberung der Welt“ um eine „Aufhebung der Zeit durch einen Sprung in die Zukunft“. Diesen findet Stacher etwa im Fun Palace von Cedric Price und Joan Littlewood, in Archigrams Plug-In City und selbst im Teshima Art Museum von Ryue Neshizawa und Rei Naito von 2010.

Stacher gelingt es, die einzelnen Projekte vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Zeit und Krise gut einzufangen. Insbesondere die Kontextualisierung der Projekte – manchmal über biografische Notizen zu den Autor*innen, manchmal über Querverbindungen zu Philosophie, Geschichte oder Kunst – ist immer wieder aufschlussreich. Nicht so gut gelingt die Verknüpfung der einzelnen Projekte zu einer zusammenhängenden Erzählung. Das holpert schon in einzelnen Kapiteln. Etwa wenn Stacher unbedingt einen roten Faden vom „Tempel für die Gleichheit“ von Jean-Nicolas-Louis Durand und Jean-Thomas Thibault in Paris (1793) über Bernard Rudofskys „Architektur ohne Architekten“ (1964) bis zu Junya Ishigamis kleinem „House&Restaurant“ in Yamaguchi (2019) spinnen möchte. Nicht nur die Auswahl der Projekte wirkt an manchen Stellen beliebig und wenig überzeugend, was vor allem in den argumentativen Übergängen deutlich wird, die teilweise atemberaubend sind. Die eingestreuten Verbindungen zu Kunst, Geschichte oder Philosophie bleiben oft Exkurse, die der Gesamtargumentation wenig weiterhelfen.

Allerdings entwickelt man beim Lesen eine gewisse Lust an der Geschwindigkeit, mit der sich die Autorin immer wieder in die halsbrecherischen Kurven ihrer Argumentation stürzt. An einigen Stellen fühlt man sich wie in einem Action-Film im Kino, wenn man sich, genüsslich Popcorn kauend, zurücklehnen kann und wundert, wie die Hauptfigur wohl aus ihrem selbst verschuldeten Schlamassel herauskommen mag.

Im Fazit am Ende ihres Buches wirkt Stacher selbst ein wenig erleichtert ob der überstandenen Achterbahnfahrt. Da spricht sie – plötzlich frei von den anfänglich formulierten großen Zielen – locker von einem „Streifzug durch die Architekturgeschichte“ und bietet noch einmal einen bunten Strauß an losen Gedanken an. Nur dem vorletzten Satz des Buches gilt es dann doch noch einmal energisch zu widersprechen: „Demnach hätten die Architektinnen und Architekten die Aufgabe, die Trümmerberge, die der Sturm des Fortschritts hinterlassen hat, zu reparieren und Letzteren auf neue Horizonte auszurichten.“ Nein, liebe Frau Stacher, das kann nicht die Aufgabe der Architektur sein. In diesem Sinne muss man dieses Buch tatsächlich als einen lockeren, stellenweise inspirierenden Streifzug durch die Architekturgeschichte lesen. Das funktioniert wunderbar.

Text: Florian Heilmeyer


Architektur in Zeiten der Krise. Aktuelle und historische Strategien für die Gestaltung „neuer Welten“
Susanne Stacher

200 Seiten
Birkhäuser Verlag, Basel 2023
ISBN 978-3-0356-2775-6
42 Euro


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