Der schwedische „Jahrhundertarchitekt“ Sigurd Lewerentz (1885–1975) wurde vor allem durch seine Friedhöfe und Kirchen bekannt. Der Waldfriedhof in Stockholm, an dem er (in Zusammenarbeit mit Gunnar Asplund) von 1915 bis 1961 immer wieder arbeitete, gilt als sein Hauptwerk. 1994 wurde die Anlage UNESCO-Weltkulturerbe.
In den 1960ern entstanden viel beachtete, grandios durchdetaillierte Kirchen in Ziegel – etwa St. Markus in Stockholm oder St. Peter in der Kleinstadt Klippan –, die selbst einen alten Haudegen der Architekturkritik wie Reyner Banham ratlos zurückließen, als er 1966 Lewerentz’ Spätwerk in seine Genealogie des Brutalismus eintüten wollte.
Für Banham war St. Markus der „härteste der harten Fälle“ – rauer als Le Corbusier, spirituell mittelalterlicher als Louis Kahn, eigentlich zu radikal als dass ein 75-Jähriger dies hätte bauen können und zu erfinderisch für einen Architekten, der Mitte der 1920er Jahre mit neoklassizistischen Sakralbauten bekannt geworden war.
Den verunsicherten Banham zitiert Kieran Long als Auftakt seiner Einleitung zum 712 Seiten und 3,5 Kilo wuchtigen Buch Sigurd Lewerentz. Architect of Death and Life, das als Begleitband zu der noch bis Ende August nächsten Jahres laufenden, großen monographische Ausstellung über Lewerentz im ArkDes in Stockholm erschienen ist.
Das Buch wurde im Zürcher Verlag Park Books publiziert, der auch (und unabhängig von der Ausstellung) den Fotoband Sigurd Lewerentz. Pure Aesthetics. St. Mark’s Church, Stockholm veröffentlicht hat. Zwei aktuelle Bücher zu Lewerentz also: Das eine funktioniert als breite Darstellung des vielfältigen Gesamtwerks, das andere als passionierte bildnerische Auseinandersetzung mit einem einzigen Gebäude.
Lewerentz darf als einer der wichtigsten Architekten Skandinaviens gelten. Er lebte nicht nur ein Jahrhundertleben, er war – noch weit stärker als etwa Le Corbusier – ein Architekt, der in allen Maßstäben und über die Jahrzehnte hinweg in den unterschiedlichsten formalen Spielarten Maßstäbe setzte, ohne je beliebig zu werden:
Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er mit einer am Deutschen Werkbund orientierten, schlichten Moderne begonnen, die den regionalen Bautraditionen und einem „romantischen Nationalismus“ verpflichtet war. Es folgten neoklassizistische Sakralbauten, diverse Beiträge (inklusive grafische Konzeption und Logo) für die „Stockholm Ausstellung 1930“ und rational-trockene Bürohäuser wie das „Philips Haus“ (1931) oder die Nationalversicherung in Stockholm (1932), die dem Neuen Bauen verpflichtet waren.
Ab Ende der 1930er folgte die Auseinandersetzung mit Materialqualitäten und klassischen Ordnungen wie man sie auch in der Schweizer Moderne findet. Dann die bereits erwähnte Hinwendung zu Ziegeln aber auch der grandios lakonische Blumenkiosk auf dem Friedhof in Malmö (1969) aus quadratischen Sichtbetonplatten, schlicht montierten Glasscheiben und einem langen Pultdach.
Das Begleitbuch zur Ausstellung im ArkDes stellt wissenschaftlichen Text, aktuelle Fotos und historisches Material aus dem Archiv sauber separiert nebeneinander. Im ersten Teil schreibt Johan Örn auf 200 Seiten detailliert über Leben und Werk des Architekten. Es folgen gut 70 Seiten mit klassisch menschenleeren Architekturaufnahmen des Fotografen Johan Dehlin, die dieser im Sommer letzten Jahres machte. Der dritte und umfangreichste Teil breitet mit großer Liebe zum historischen Material Pläne, Fotos, Zeichnungen und vereinzeltes Schriftgut aus dem Nachlass von Lewerentz aus.
Der große Vorteil dieser Dreiteilung über hunderte Seiten hinweg, die manches mühsames Hin- und Herblättern verlangt: Text, Foto und Archivmaterial haben nicht nur genügend Platz, sondern kommen zu ihrem eigenen Recht als Medien der Architekturvermittlung. Ein Indizierungssystem, das zwischen den Teilen vermittelt, wäre freilich hilfreich gewesen.
Gänzlich anders funktioniert Sigurd Lewerentz. Pure Aesthetics. St. Mark’s Church, Stockholm, das sich ganz um die stimmungsvollen Fotos dreht, die Karin Björkquist und Sébastien Corbari von der Kirche gemacht und anschließend zu einem programmatisch dichten, visuell überzeugenden und hervorragend gedruckten Fotoband zusammengestellt haben. In 15 räumlich geordneten Kapiteln durchstreifen sie das Gebäudeensemble und lichten wirklich jede Ecke und jedes Detail des Hauses ab – so wirkt es zumindest.
Eine fotografische Typologie wiederkehrender Elemente, ein kompletter Plansatz sowie fünf kompakte Essays (unter anderem von Steven Bates) runden das Buch ab. Nicht nur, wer den späten Lewerentz an Hand des Gebauten studieren will, sondern alle, die minutiös-exzessive Dokumentationsprojekte lieben, werden an dieser Publikation nicht vorbeikommen.
Text: Gregor Harbusch
Sigurd Lewerentz. Architect of Death and Life
Kieran Long, Johan Örn und Mikael Andersson
712 Seiten
Englisch
Park Books, Zürich 2021
ISBN 978-3-03860-232-3
120 Euro
Sigurd Lewerentz. Pure Aesthetics. St. Mark’s Church, Stockholm
Karin Björkquist und Sébastien Corbari (Hg.)
352 Seiten
Englisch
Park Books, Zürich 2021
ISBN 978-3-03860-243-9
65 Euro
Zum Thema:
Die Ausstellung „Sigurd Lewerentz. Architect of Death and Life“ im ArkDes in Stockholm läuft noch bis 28. August 2022. Es ist die erste umfangreiche Ausstellung, die jemals zu Lewerentz gemacht wurde.