Am 1. Mai diesen Jahres verstarb einer der prägendsten Designtheoretiker Deutschlands: Michael Erlhoff. Nur wenige Wochen später erschien in der Reihe Bauwelt-Fundamente sein Buch Im Schatten von Design. Zur dunklen Seite der Gestaltung, das ihn nochmals als radikalen Denker des Designs zeigt. Die Publikation liest sich wie eine temporeiche Mischung aus scharfer Attacke und inniger Umarmung des Designs. Erlhoff formuliert darin seine radikale Kritik an einem Design, das unterwürfig „im Kreis herumläuft, taumelt und stottert vor Schwindel“ – und verbindet diese mit der konkreten Hoffnung, das Design möge sich endlich besinnen und selbstbewusst kritische Kompetenz zeigen. Weg von einem Design der „substanziellen Banalität“, hin zu einem Design als „substanzielles Argument“. „Weniger Komplexe, mehr Komplexität!“ könnte vorne drauf stehen, wenn dies kein kluges Buch, sondern ein simples T-Shirt wäre.
Auf 145 Seiten geht es um Gewehre, Pistolen, Bomben und Tretminen, um Ernst Blochs „Banalität der Tiefe“, Möbelstücke, die Menschen zerschmettern, nervige Narrative, „das Elend reiner Sauberkeit“, den „Electric Chair Designer Mr. Death“ und um eine Briefmarke mit Jackson Pollocks Konterfei, auf dem die Zigarette wegretouchiert wurde. Es geht um Corporate Smell, Bundeswehr-Branding und trostlose Narren.
Das alles geschieht erstaunlich gut gelaunt und ziemlich befreit von dem, was Erlhoff an anderer Stelle als „die üblichen Gesten angestrengter Halbbildung“ bezeichnet. Schon allein deshalb sollte man dieses Buch lesen. Am besten querbeet und von hinten nach vorne. Und vor allem immer wieder. Einen Satz unterstreichen, noch mehr Sätze unterstreichen – bis das ganze Buch vollgekritzelt ist. Sich die Sätze hinter die Ohren schreiben, sie rezitieren, internalisieren. Sie an die Wand schreiben, mit Permanentmarker. In Baumrinden ritzen. Für die Ewigkeit. Sie wie kleine wohldosierte Konfettibomben loslassen – in Keynotes, Kolloquien und Design-Kommissionen. Sie zur Pflichtlektüre all derer erklären, die auf Tagungen und Messen immer noch über Ergonomie, Funktionalität und Effizienz referieren.
Man kann die hier formulierte Kritik als explizite Aufforderung an Designer*innen verstehen. Vor allem an jene unter uns, die beginnen, den Design Thinking-gestählten Unternehmensberater*innen mit ihren Präsentationsköfferchen immer ähnlicher zu werden. „Sicherlich, so kann man weitermachen, weiterhin Geld verdienen und gelegentlich die Schaubühne betreten“, so Erlhoff, „nur schafft solches Verhalten keine klugen Ausblicke, verändert nichts, steckt in der Konserve.“ Konserve interessierte ihn nie, sondern Perspektive. Damit dies möglich wird, brauche es keine Post-Its und auch keine „gute Form“, sondern die Fähigkeit, produktiv mit Unsicherheiten umzugehen.
Wer – wie die Autorin – zu den Absolvent*innen des Fachbereichs Design an der FH Köln (heute Köln International School of Design KiSD) gehörte, dessen Gründungsdekan Erlhoff 1991 war, weiß um die von ihm verabreichten, wohldosierten Dosen an Ambiguitätstoleranz. Heute können wir beobachten, wie unverzichtbar die Kompetenz, Ungewissheiten nicht nur auszuhalten, sondern sie willkommen zu heißen und konstruktiv zu nutzen, geworden ist. Erlhoffs letzter Appell an das Design: Hör endlich auf, dich ständig zu entschuldigen und wie ein verschüchtertes Kind hinter Institutionen, Agenturen und anderen Disziplinen zu verstecken. Komm endlich raus und übernimm den ganzen Laden!
Text: Judith Mair
Im Schatten von Design. Zur dunklen Seite der Gestaltung
Michael Erlhoff
155 Seiten
Birkhäuser Verlag, Basel 2021
ISBN 978-3-0356-2381-9
29,95 Euro