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20.04.2022

Buchtipp: Zwischen Küche und Stadt

Zur Verräumlichung gegenwärtiger Essenspraktiken


Essen – elementare Lebensfunktion und essentieller Bestandteil menschlicher Alltagshandlung – gilt als Kulturtechnik schlechthin und ist Gegenstand unterschiedlichster Forschungsdisziplinen. Die Räume und Orte des Essens jedoch blieben bisher wenig behandelt.

Jetzt hat die Architekturtheoretikerin Julia von Mende einen ebenso gründlichen wie anregenden Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Architekturforschung vorgelegt, der zudem voller Anknüpfungspunkte für die Planung steckt. Zwischen Küche und Stadt. Zur Verräumlichung gegenwärtiger Essenspraktiken sondiert die „terra incognita“ von Küchen im großstädtischen Gefüge, innerhalb der Wohnung und im Quartier. Entstanden ist ein vielschichtiges Buch über Funktionen und Zuschreibungen der privaten Küche – Ort chemisch-stofflicher Prozesse, Multifunktionsraum oder Sehnsuchtsort der Gemeinschaftlichkeit am Herdfeuer – und ihrer Gegenpole: Restaurant, Steh-Imbiss, Take-away als Orte zwischen Luxus und Zeitsparstrategie.

Kern der Untersuchung sind Küchen-Interviews, die die Autorin in Berliner Haushalten geführt hat. Sie spiegeln die realen Nutzungsmuster angesichts zeitlich durchgetakteter Tagesabläufe und immer ausdifferenzierterer gastronomischer Angebote außer Haus wider. Gestützt durch Konsumzahlen und Wirtschaftsdaten der Gastronomiebranche sowie Feldforschungen zeigen sie, dass sich – entgegen der medialen Präsenz des Selbstkochens – Essen im urbanen Lebensalltag zusehends verlagert.

Ihre Ergebnisse dokumentiert die studierte Architektin mittels zahlreicher Iso- und Axonometrien. Durch die klare Darstellungsform erreicht sie eine hohe Vergleichbarkeit ganz unterschiedlicher Küchentypen und analysiert deren Vielfalt: Als Frühstücks- und Produktionsort für Proviant, als Technikraum zum Kühlen und Erhitzen mit Dampf- und Geruchsabzug, Geräten und Maschinen, als Repräsentationsraum oder „Outdoorküche“ mit Grill auf Balkon oder Terrasse. Betrachtet werden Szenarien der Entgrenzung von Ess- und Arbeitsplatz, die Rolle von Medien und Liefer-Apps oder die Auslagerung der kernfamiliären Tischgemeinschaft in hausübergreifende Gemeinschaftsküchen.

Die Übergänge vom häuslichen Oikos zum öffentlichen Stadtraum erweisen sich als fließend. Essen zu jeder Tages- und Nachzeit ist unter dem verbreiteten Schlagwort der „Mediterranisierung“ ein omnipräsentes Phänomen nicht nur in den Stadtzentren mit Außengastronomie. Gemeinsames Tafeln auf Plätzen als Event, die improvisierte Sofa-Lounge auf dem Bürgersteig, der Kaffee im Waschsalon und die Snacktheke in der Tankstelle sind so alltäglich, wie die Frontstage-Küchen vieler Restaurants, die das Kochen zum Happening machen.

Ihre Ergebnisse stellt die Autorin insbesondere in den Kontext von Hartmut Rosas Theorie der „gesellschaftlichen Beschleunigung“. In bebilderten historischen Exkursen hat sie zudem eine Fülle von Einzelaspekten und Literatur zusammengetragen, etwa über die weibliche Zuschreibung als Herrin der Küche seit der Antike bis zu den rationalisierten Küchenentwürfen der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky.

Ein anderer Betrachtungsstrang gilt der technologischen Entwicklung von der offenen Feuerstelle in der Hausmitte über ihre Verlagerung in den Herdinnenraum, der räumlichen Entkoppelung von Heizen und Kochen und den Folgen für die Grundrissgestaltung. Parallel zum festen Herd gab es früh mobiles Catering in Form militärischer Feldküchen mit eigenen Werkzeugen und Behältnissen zur zeitökonomischen Verpflegung unterwegs.

Auch die Geschichte des Essens außer Haus wird erzählt. Sie reicht von babylonischen Garküchen und pompejischen Stehimbissen über mittelalterliche „Wirtlichkeit“, das erste im vorrevolutionären Paris gegründete Restaurant, die Ausgehkultur im Kaiserreich bis zur jahrhundertealten Tradition des Kaffees als leistungssteigerndem Bestandteil der Arbeits- und Esskultur. Das Buch ist – über die architektonischen Analysen hinaus – eine inspirierende Stoff- und Literatursammlung und ein sehr empfehlenswertes Basiswerk zum Thema Küche.

Text: Ulrike Alber-Vorbeck

Zwischen Küche und Stadt. Zur Verräumlichung gegenwärtiger Essenspraktiken
Julia von Mende
446 Seiten
Transcript Verlag, Bielefeld 2022
ISBN 978-3-8376-5935-1
39 Euro


Zum Thema:

Die Autorin stellt das Buch am Dienstag, 26. April 2022 um 19 Uhr bei Goldhahn & Sampson in Berlin sowie am 27. Juni 2022 um 19 Uhr im AIT-ArchitekturSalon Hamburg persönlich vor.


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