Im Deutschen Pavillon wird in diesem Jahr nüchtern analysiert, in der Hauptausstellung der Biennale darf hingegen geträumt werden. Aller Krisen zum Trotz setzt Kuratorin Cecilia Alemani auf die Kraft der Fantasie. Ihre Idee einer besseren Zukunft ist eine Welt in stetem Wandel, in der die Grenzen zwischen Mensch, Pflanze und Tier, zwischen Objekten und Technologie durchlässig geworden sind. Kann davon auch die Architektur profitieren?
Von Stephan Becker und Linda Kuhn
Auf dem Padiglione Centrale tanzen freche Haie. Ist Venedig womöglich schon untergegangen, haben sich die Giardini in eine bunte Unterwasserwelt verwandelt? Angesichts des mühsamen Kampfes gegen den Klimawandel wäre das jedenfalls kein Wunder. Aber nein, noch nicht. Bei den humorvollen Attikafiguren handelt es sich um eine Arbeit der Kölner Künstlerin Cosima von Bonin, deren Cartoonhaftigkeit auch gut zu einem Strandbad an der Adria passen würde. Diese spielerische Bedeutungsverschiebung lässt an den Surrealismus denken. Damit ist Kuratorin Cecilia Alemani zweifelsfrei ein charmanter Auftakt ihrer Hauptausstellung gelungen.
Der Surrealismus-Bezug ist zentral für die diesjährige Biennale, deren Titel „The Milk of Dreams“ ein surrealistisches Kinderbuch der Malerin Leonora Carrington zitiert. Die einflussreiche Kunstströmung war nicht zuletzt der Versuch, jene mörderische Rationalität zu überwinden, die ihre Protagonist*innen als eine der wesentlichen Ursachen des Ersten Weltkriegs sahen. Alemani möchte hier anknüpfen, indem sie eine Welt voller Möglichkeiten und Transformationen entwirft, in der es zwischen nichts mehr eine Grenze gibt und gerade aus diesem ewigen Werden eine neues Gleichgewicht entsteht. Das klingt leicht esoterisch, und ist es vermutlich auch. Aber man muss doch anerkennen, dass es angesichts des anhaltenden Ausnahmezustands der Gegenwart nicht schaden kann, neue Visionen des Menschseins zu entwickeln.
Zwischen Deko und Revolution
Ihr Anliegen verfolgt Alemani mit einem schier endlosen, in jedem Fall aber explizit feministischen Aufgebot. Rund 1.500 Arbeiten von über 200 Künstler*innen sind zu sehen, von denen immerhin knapp 20 Männer sind. Schon allein diese Verschiebung lohnt einen Besuch, auch wenn sie eigentlich nicht mehr explizit erwähnenswert sein sollte. Und dass es unter einer solchen Masse zahlreiche außergewöhnliche Werke gibt, versteht sich von selbst.
Ihren Anspruch einer neuen Verzauberung der Welt verfehlt Alemanis Auswahl allerdings. Dafür ist vieles zu gegenwärtig, zu brav, den Kunstmärkten zu nahe. Der Fokus liegt auf Skulptur und Malerei, oft Highend-Produktionen und gerne auch im Luxusvillen-Format. Performatives und Digitales, beim Thema eigentlich nahliegend, fehlen hingegen fast komplett. Die Ästhetik ist gediegen sinnlich, natürliche Materialien treffen auf organische Formen und angenehm gedeckte Farben. Vieles würde auch als Dekoinsel auf einer Interior-Messe nicht stören. Ruppiger Charme findet sich hingegen kaum, verrückt ist hier nur selten etwas.
Den explizit revolutionären Geist des Originals muss man woanders suchen. Und findet ihn, zum Glück, in fünf thematischen Zeitkapseln, die im Zentralpavillon ebenso wie im Arsenale zu entdecken sind. Solche Kapseln sind an sich keine neue Idee, aber unter Titeln wie „The Witch’s Cradle“, „Technologies of Enchantment“ oder „Seduction of the Cyborg“ gibt es dort teils sensationelle historische Arbeiten wiederum fast ausschließlich von Frauen zu sehen. Sie zeigen, worin die Kraft des Surrealismus im besten Fall liegen kann: eben nicht in einer raunenden Mystifizierung, sondern in einer Umdeutung und Transzendierung des Existierenden, gerne auch mit einfachen Mitteln. Dazu gehört außerdem eine Direktheit, wie sie auch Cosima von Bonins Haie auszeichnet und die ebenfalls ein wichtiges Merkmal des historischen Surrealismus war.
Die Jury unter Adrienne Edwards bewies dahingehend ein feines Gespür, denn sowohl der Goldene Löwe für die Bildhauerin Simone Leigh als auch der Silberne Löwe für Ali Cherri bestätigen solche Haltungen. Cherris absurde Lehmplastiken, bei denen der Sockel praktischerweise gleich integriert ist, werden aber zur Sicherheit auch noch von einem Film zur Arbeit mit Lehm im Sudan flankiert. Und Lynn Hershman Leeson, die eine besondere Erwähnung erhielt, setzt sich schon seit Jahrzehnten eingänglich mit Themen wie der technologischen Entgrenzung und Durchdringung unserer Körper und Identitäten auseinander. So mancher Digital Native könnte sich bei ihr vermutlich eine Scheibe abschneiden.
Gelungene Ausstellungsarchitektur
Die Ausstellungsarchitektur wurde von Formafantasma mit Büros in Mailand und Rotterdam gestaltet. Ebenfalls im Dialog mit Alemani hatte das Duo schon 2020 eine historische Biennale-Rückschau im Zentralpavillon verantwortet. Die architektonischen Eingriffe beschränken sich meist auf wenige, präzise gesetzte Interventionen. Monumentale Wandkonstruktionen kommen hier und da zum Einsatz, aber oft reicht Andrea Trimarchi und Simone Farresin auch einfach ein wenig Farbe. Aus dem Vollen schöpfen sie hingegen in den Zeitkapseln, von denen jede ihren ganz eigenen Charakter hat. Spezielle Display-Architekturen gibt es, intensive Farben oder sogar elegante Wandbespannungen und Teppichböden, die sich mit Hohlkehlen die Wände hinaufziehen – immer in einem überzeugenden Dialog mit dem historischen Material.
Und was bringen nun Architekt*innen solche Auseinandersetzungen, jenseits von ein bisschen Inspiration? Manche Themen, die Alemani umtreiben – beispielsweise die cohabitation von Mensch, Pflanze und Tier – haben angesichts des Klimawandels natürlich auch im Häuser- und Städtebau längst Fuß gefasst. Doch was sich ebenfalls mitnehmen lässt, ist Alemanis Wille, sich die Welt zu einem anderen Ort zu denken, der nicht allein von den Ökonomien des Alltags dominiert wird. Kleine Störungen der schnöden Realität schaden jedenfalls nie. Dies auch öfters beim Entwerfen im Hinterkopf zu haben, könnte sich allemal lohnen.
Fotos: Andrea Avezzù, Marco Cappelletti und Roberto Marossi, Courtesy La Biennale di Venezia
Zum Thema:
www.labiennale.orgMehr zum diesjährigen Deutsche Pavillon von Maria Eichhorn auch in unserer Meldung
„Rückbau Schicht um Schicht“.
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STPH | 05.05.2022 16:11 Uhr...
Danke Stephan Becker und Linda Kuhn für die unterhaltsame Führung. Ist auch eine Kunst.