Lesley Lokkos Hauptausstellung bringt zum ersten Mal eine afrikanische Perspektive auf die Biennale. Das war längst überfällig. Die Meinungen in der Architektenschaft dürften dennoch gespalten ausfallen. Denn dieses Jahr gibt es in Venedig so wenig Architektur wie nie zuvor zu sehen. Stattdessen geht es um architektonisches Denken weit jenseits des konkreten Bauens.
Von Stephan Becker
Sandkästen und Erdhügel, wuchernde Pflanzen, Skulpturen und Plastikteppiche, Bücherwände, Klappsitze und Wandbehänge, Lehm, Acryl und Graphit, dazu Stoffdrucke und Poesie, Video, Sound, Malerei – und ja, zwischen den vielen eher künstlerischen Installationen auch etwas Architektur in Form von klassischen Modellpräsentationen. Keine Frage, mit der Architektin, Romanautorin und Akademikerin Lesley Lokko öffnet sich die diesjährige Biennale im Vergleich zu früheren Ausgaben noch einmal ein ganz schönes Stück. Architekturpraxis heißt bei ihr nicht nur Bauen, sondern auch Lehren, Forschen, Schreiben oder sogar Magazinmachen.
Diese Vielfalt ist folgerichtig, denn Lokko verspricht ein „Laboratory of the Future“ und in einem Labor gibt es bekanntlich viele Gerätschaften. Nicht nur, aber zu einem großen Teil liegt Lokkos Fokus auf dem afrikanischen Kontinent und der afrikanischen Diaspora. Ihr – die selbst einen ghanaisch-schottischen Hintergrund hat – geht es jedoch nicht nur um Sichtbarkeit für marginalisierte Positionen. Afrika ist für sie auch interessant, weil dort viele der aktuellen Krisen und Herausforderungen schon längst akut sind. Hier könnten sich also Lösungen finden lassen.
Lokkos Themenspektrum ist dabei ähnlich vielfältig wie die Formate. Um den Klimawandel geht es oft, um Dekolonialisierung und neue Zugänge zu nicht-weißer Geschichte, um Identitäts- und Materialfragen, globale Lieferketten, Big Data, Feminismus und matriachale Lebensformen, um Forstwirtschaft und Zirkularität.
Verwirrt? Kein Wunder, denn so souverän wie Lokko die großen Themen der Gegenwart in der Hauptaussstellung in zentralen Pavillon der Giardini und im Arsenale aufgreift, so undurchdringlich ist zunächst das dichte Geflecht, das sie aufspannt. Klar, man lernt mit dem ivorischen Büro Koffi & Diabaté Architectes oder der nigrischen Planerin Mariam Issoufou Kamara viel über das zeitgenössische Bauen in Afrika oder darf sich an Olalekan Jeyifous’ knalliger afrofuturistischen Vision eines neuen „African Age“ erfreuen (für die es einen „Silbernen Löwen Hauptausstellung Nachwuchs“ gab). Aber die verschiedenen Ebenen sind gar nicht so einfach zu entziffern, was auch daran liegt, dass Lokko – in ökologischer Hinsicht absolut löblich – die Ausstellungsgestaltung der letztjährigen Kunstbiennale fast komplett übernommen hat.
Was in ästhetischer Hinsicht etwas verwundert: Viele Arbeiten kommen in einem regelrechten Retro-Look daher, wofür stellvertretend die Beiträge von Flores i Prats Architects (Barcelona) oder Wolff Architects (Kaptstadt) – gewürdigt mit einer Besonderen Erwähnung – genannt werden könnten. Sieht so die Zukunft aus? Oder handelt es um gefällige Manierismen à la Instagram?
Ob sich außerdem Großarchitekt*innen wie David Adjaye (London) oder Neri&Hu (Shanghai) mit ihren sehr konventionellen Modellsammlungen einen Gefallen tun, sei dahingestellt. Hinzu kommt, dass Lokkos „Guests from the Future“ – eine Sektion, die auf junge Nachwuchspositionen fokussiert – dringend mehr Raum und Ressourcen zu wünschen gewesen wäre. Verteilt über die gesamte Ausstellung wirken sie so eher wie buntes Konfetti denn als starke zukunftsträchtige Vertreter*innen ihrer Professionen.
Es ist hilfreich, Lokkos Ausstellung mit dem Short Guide in der Hand zu durchstreifen. Und das nicht unbedingt, weil es in ihrem Labor immer besonders verkopft zuginge. Im Gegenteil, viele der Beiträge erschließen sich unmittelbar auf einer sinnlichen Ebene. Doch es ist inspirierend und schafft Orientierung, die einzelnen Arbeiten zur übergeordneten kuratorischen Struktur in Beziehung zu setzen. Die versammelten Projekte werden dann plötzlich zu einer neuen Sprache, die wir erst noch erlernen, ja sogar entwickeln müssen. Wenn man beispielsweise die Installation des nigerianisch-stämmigen Künstlers Looty zu digitalen Restitutionsformen betrachtet, erkennt man zunächst wenig Architektonisches. Wenn man aber versteht, dass sie als Teil der Sektion „Mnemonic“ auch daran erinnert, wie Geschichtsschreibung unsere künftige Raumwahrnehmung prägt, ergibt seine Vision plötzlich Sinn. Dahingehend ist Lokkos Biennale ambitioniert wie schon lange keine mehr.
Am Ende bleibt trotzdem ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits war diese Biennale mit Blick auf die Architekturbranche ohne Frage mehr als überfällig. Und spielerisch gelingt es Lokko immer wieder, neue Perspektiven zu eröffnen. Doch wenn einem anderseits beim Spaziergang durch die dunklen Ausstellungshallen jene neuen Abhängigkeiten von Ländern wie China und Saudi-Arabien in den Sinn kommen, die gerade auf dem afrikanischen Kontinent entstehen, wird einem auch bewusst, wie weit der Weg noch ist. In diesem Sinne bleibt nichts anderes, als sich Lokkos „radikalem Optimismus“ anzuschließen und darauf zu hoffen, dass die Verschiebungen, die sie in Venedig skizziert, am Ende nicht ein einmaliges Ausstellungsereignis bleiben.
Fotos: Andrea Avezzù, Matteo de Mayda, Jacopo Salvi, Marco Zorzanello
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arcseyler | 23.05.2023 15:58 Uhr..........
grundlegender wäre doch zu erfahren, wie sich eine teils improvisierte Stadt organisiert informell ggf. auch kriminell. Dazu gehören dann auch Sicherheitsarchitekturen von sehr ansprechenden Wohntürmen bis zu den architektonisch sehr differenzierten Gated Communitys. Hier entsteht Stadt. Hierzu gilt es eine Einstellung und Antworten zu finden. Auch in Europa, im Zuge der Angleichung durch Globalisierung. Afrika kann uns da eine Menge lehren, ist uns da voraus und in diesem Sinne Experimentierfeld. Auf Gebieten die uns noch vollkommen fremd sind. Architektur im Spannungsfeld zwischen Arm und Reich.