Nach Köln ziehen die Leute, das Bergische verlassen sie - wo und wie man in Deutschland lebt, unterliegt gerade einem starken Wandel. Was macht in dieser Situation nun „gutes Wohnen“ aus - und wie ist es finanzierbar? Diese Fragen wirft das M:AI in einer Ausstellung in Köln auf, und zwar direkt an einem Ort, an dem die derzeitigen Veränderungen ausgetragen werden.
Von Annika Wind
Wie Tentakel quellen Kabel aus Steckdosenlöchern. Ein Mausklick nur und schon zoomt eine Kamera an unverputzten Wänden vorbei. „Josefine Clouth" heißt dieser Teil des zurzeit größten Wohnbauprojekts in Köln, den man bequem im Internet erkunden kann. Sein Name erinnert an die Frau eines Gummifabrikanten, der hier einst Hosenträger oder Reifen produzieren ließ. Und auf dessen ehemaligem Gelände nun rund 1100 Wohnungen entstehen. Das perfekte Umfeld für eine Ausstellung, die genau hierher will: an den Ort der Diskussion.
Denn darauf, so könnte man sagen, sind die Kuratoren des M:AI, des Museums für Architektur und Ingenieurkunst NRW, spezialisiert. Eine Sammlung oder ein eigenes Haus haben sie nicht, dafür ein Büro in Gelsenkirchen, von dem aus sie ihre Ausstellungen an baukulturell interessante Orte schicken. An Orte, die wie diese alte Fabrikhalle auf dem Clouth-Gelände ein Stück weit selbst zum Gegenstand der Schau werden: Die Ausstellung „Alle wollen wohnen“ hinterfragt die Hintergründe gerechten und bezahlbaren Wohnungsbaus. Sie erklärt rechtliche Grundlagen, historische und aktuelle Entwicklungen. Ohne zu bewerten. Aber nicht ohne reichlich Material zu liefern, damit der Besucher selbst urteilen kann. Und zwischenzeitig zu einem Fenster gehen, von dem aus der Blick über die (noch anzulegende) Straße bis auf weitere Rohbauten reicht - und das 14,5 Hektar große Clouth-Gelände.
Fünf Themenräume haben Ursula Kleefisch-Jobst, Peter Köddermann und Karen Jung in amorphen, knallig-bunten Ausstellungskuben eingerichtet. „Küche.Diele.Bad“ etwa führt mit Texten, Fotos und Plänen vor, wie die chaotische Enge, das „Durcheinanderwohnen“ zur Zeit der Industrialisierung zum späteren Traum vom Eigenheim führte. Das erklärt wiederum auch die Begeisterung, mit der Familien einst in Hochhäuser zogen - in allein für sie vorgesehene Wohnungen, mit allem Komfort. Heute werden solche Bauten in Ostdeutschland straßenweise abgerissen. Oder, wie in Hamburg, mustergültig saniert und „nachverdichtet“.
Denn bis 2030, so liest man hier, wird die Bevölkerung von Düsseldorf um 10,6, von Köln gar um 14,5 Prozent wachsen, im oberbergischen Morsbach hingegen wird sie um 16,9 Prozent schrumpfen. Während in strukturschwachen Regionen also ganze Landstriche ausbluten, explodieren in den Metropolen Bevölkerung, Kauf- und Mietpreise. Allein in Köln werden bis zum Jahr 2029 rund 52.000 zusätzliche Wohnungen benötigt. Dass die Ausstellung mit solchen Zahlen auch mitten in die Debatte um Wohnraum für Flüchtlinge fällt, ist Zufall. Gemessen an der grundsätzlichen Bevölkerungsentwicklung sei ihr Anteil auch vergleichsweise klein, sagt Kuratorin Ursula Kleefisch-Jobst. Oder anders ausgedrückt: Der Bedarf an bezahlbaren Wohnungen gerade in den Städten ist ohnehin hoch - nicht erst seit gestern.
Das Problem: Schon seit den 80er Jahren steht es schlecht um den sozialen Wohnungsbau. Während die Stadt Wien etwa seit 100 Jahren keine Flächen und Bauten mehr verkauft, haben viele deutsche Städte den Grundstock ihrer gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften inzwischen veräußert. Auch für solche Entwicklungen ist das Clouth-Gelände exemplarisch. 2003 hatte es die Stadt im Ganzen erworben. Nun wird es scheibchenweise auch an Investoren weitergegeben - nur 30 Prozent der hier gebauten Wohnungen sind auch öffentlich gefördert. 120 Wohnungen werden allerdings von zehn Baugruppen geschaffen, in einem gemeinsamen Planungs- und Bauprozess, der auch die Kosten für alle Beteiligten minimiert. Der Wunsch, gemeinschaftlich zu wohnen, erlebt eine Renaissance - verblüffend in einer Zeit, die zugleich Individualismus zelebriert.
Hohe Standards, Auflagen und Normen machen es Bauherren allerdings schwer, die Kosten zu senken. Zudem hat das serielle Bauen ein schlechtes Image. Dabei führt die Ausstellung vor, wie gut sich etwa in Helsinki eigene Vorstellungen mit dem Prinzip des Fertigbaus kombinieren ließen: Im Tila Rohbau von Pia Ilonen übernahmen die Bewohner den Innenausbau selbst. In Mannheim werden bald Fertighäuser des renommierten Architekten Winy Maas gebaut und in der Nähe von Zürich Kleinstwohnungen auf dem Industriegelände Zwicky bezogen. Die sind in ein großes Areal eingebettet, das gemeinschaftlich genutzt wird. „Cluster-Wohnen“ nennt man so eine Form, die nun seit ein paar Monaten in der Schweiz getestet wird. Ob’s funktioniert? Schließlich hatte man schon in den 60ern strukturalistische Wohnprojekte auf den Weg gebracht - und war gescheitert. In Modulen sollten die Menschen leben, die sie je nach Lebenssituation verkleinern oder erweitern konnten. Nur: Genutzt wurden solche visionären Modelle nie oder nie so, wie es die Architekten eigentlich gedacht hatten. Weder im berühmten Nakagin-Turm in Tokio noch in der „Metastadt“ von Richard J. Dietrich in Wulfen - 1987 war das kühne Wohnkonstrukt abgerissen worden.
Auf dem Clouth-Gelände sind inzwischen 75 Prozent der Grundstücke veräußert, die ersten 160 Wohnungen fertiggestellt und 350 Menschen eingezogen. Bis 2019 werden weitere Gebäude in den Himmel wachsen oder saniert. Die Halle 18 etwa, in der nun bis Ende Oktober „Alle wollen wohnen“ läuft und in die danach ein Architekturbüro und Wohnungen ziehen. Oder eine Halle, in der man auch Ateliers plant. Für die, die das Firmengelände zuvor jahrelang genutzt hatten - bevor die Bagger kamen. Ein Investor will ihnen nun frisch sanierte Räumlichkeiten anbieten. Die Künstler, heißt es, hätten ein „Vormietrecht“.
Die Ausstellung des M:AI ist bis zum 30. Oktober auf dem Clouth-Gelände, Halle 18, Zugang über Xantener Straße, 50733 Köln, zu sehen.
Öffnungszeiten: Dienstag, Mittwoch, Freitag – Sonntag von 11.00 bis 18.00 Uhr und Donnerstag von 11.00 bis 19.00 Uhr
www.mai-nrw.de
Zum Thema:
In der Baunetzwoche#468 lässt sich nachlesen, wie gerade 33 Architekten in Berlin ein neues, urbanes Wohnen in der WerkBundStadt erproben und die Baunetzwoche#380 zeigt einen Abzug des Buches „Wohnkomplex” von FAZ-Redakteur und Architekturkritiker Niklas Maak
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