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17.01.2022

Herrscher der Stadtwelten

Zum Tod von Ricardo Bofill


Von Anne Kockelkorn

Er war ein Weltstar, als Architektur zur Marke auf internationalen Bühnen wurde und noch niemand wusste, wer Rem Koolhaas ist: „Da steht er mit vierzig Jahren, (...) steigt zum zweihundertsten Mal in den Ring (...), ein Bobby Fisher der Architektur, ein Muhammad Ali der Architektur – ,mach es nicht, Ricardo‘.“ 1981, ein knappes Jahr nach Bofills Auftritt auf der Strada Novissima in Venedig jubelte Charles Jencks im Ausstellungskatalog an der Londoner AA mit der Verve eines Boxkampf-Moderators über die Durchschlagskraft des jungen Bofill.

Jencks war mit seiner Begeisterung nicht allein. In den 1970ern pilgerten Journalisten, Architekten und Stadtplaner nach Barcelona, um den Büro- und Wohnsitz „Fábrica“ und den danebenstehenden Großwohnungsbau „Walden 7“ im Vorort Sant Just Desvern zu besuchen. „Mach es nicht“: Damit meinte Jencks den Ruck zur neohistoristischen und monumentalen Fassadeninszenierung aus eingefärbten Betonfertigteilen, die in den 1980er Jahren zum Markenzeichen von Bofills Büro Taller de Arquitectura wurden. Historische Vorlagen für die städtebaulichen Großprojekte wie „Antigone“ in Montpellier (1978–99) oder „Cergy St. Christophe“ (1981–86) in der Pariser Neustadt Cergy lieferten der Palladianismus bis zur französischen Revolutionsarchitektur. Gestaltet wurden die beeindruckenden Betonfassaden von Meisterzeichnern französischer Architekturschulen und Stahlbetonfirmen wie Bouygues und Coignet.
 
Dass ein Architekt in seinen Vierzigern ein international so beachtetes bauliches Werk vorweisen konnte, war im 20. Jahrhundert eine Ausnahmeerscheinung. Ebenso, dass ein Architekt ohne Architekturdiplom mit 24 Jahren seinen ersten Architekturpreis für einen realisierten Wohnungsbau gewinnt: eine brutalistisch anmutende Baulückenschließung mit roter Ziegelfassade in der Calle Nicaragua in der barcelonesischen Innenstadt. Ökonomische Bedingung für den frühen Erfolg von Ricardo Bofill war das Bauunternehmen seines Vaters Emilio Bofill Benessat, der bis in die frühen 1970er Jahre hinein die Bauanträge des Büros unterzeichnete. Die wohlwollende Unterstützung des Vaters erlaubten dem jungen Bofill nicht nur ökonomische, sondern, noch wichtiger, weitreichende intellektuellen Freiheiten: Sie erklären nicht zuletzt Bofills Fähigkeit, massentauglichen Wohnungsbau als gesellschaftspolitisches Instrument zu verstehen.

Anders als in den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten der Boomjahre unterstützte die Wohnbaupolitik Francos eher die Mittelklasse, ignorierte die Slums der spanischen Binnenmigration und setzte auf Immobilienspekulation im Zuge der rasant wachsenden Tourismusindustrie. Genau an diesem Punkt setzten die Arbeiten des „Taller“ (zu deutsch: Werkstatt) an – des vom 20-jährigen Bofill gegründeten Architekturateliers, zu dessen Gründungsmitgliedern neben Schriftstellern, Soziologen und Theatermachern nur zwei diplomierte Architekten zählten.
 
Das zentrale Projekt dieser Zusammenarbeit war die „Raumstadt“, ein zwischen 1968 und 1972 entwickeltes Stadtprojekt und Gesellschaftsmodell, das seine Realisierung in der Peripherie von Madrid nur knapp verfehlte, aber den Ideengrundstock für kommende Jahrzehnte lieferte. Grundgedanke dieses Stadtmodells war die Auflösung von Straße und Wohnblock durch das dreidimensionale Clustern von Mikroeinheiten: Die kleinste Einheit ist das Zimmer, jenseits dessen die Stadt mit ihren kollektiven Freiräumen und sozialen Infrastrukturen beginnt. Ökonomisch sollte sich die Raumstadt auf Basis von kollektiven Eigentümerstrukturen im per Architekturformel geleiteten Selbstbau entwickeln.

Praktisch bauten diese Konzepte auf circa sieben Jahren Bauerfahrung mit experimentellen Feriensiedlungen am Meer auf (wie zum Beispiel Xanadú bei Calpe, 1965–68) sowie Großüberbauungen für Arbeiter (wie das Barriò Gaudi in Reus 1964–72). Entscheidend ist: Bei der Raumstadt ging es nicht nur um eine gangbare Antwort auf das Wohnen für Alle, sondern um die Erweiterung des Wohnens durch das Angebot kollektiver Erfahrungswelten in der urbanen Peripherie.
 
Die beiden Projekte, in denen Teile dieser Ideen umgesetzt wurden, sind „Walden 7“ in Barcelona (1970–75) und „Les Espaces d’Abraxas“ in der Pariser Neustadt Marne-la-Vallée (1978–84). Von der Fachöffentlichkeit wurden diese Projekte mit gemischten Gefühlen begrüßt. Zu momumental erschienen die Sogkraft der urbanen Innenräume, zu dunkel die Wohnungen der unteren Geschosse. Die visionäre Kraft und Bedeutung dieser frühen Antworten auf eine sich immer weiter ausdifferenzierende Gesellschaft blieb angesichts des Widerwillens, die postmoderne Ästhetik der späteren Projekte zu akzeptieren, auf der Strecke.
 
Mediales Unverständnis und der Streit mit nahezu allen Gründungsmitgliedern des Taller mögen dazu beigetragen haben, dass sich Ricardo Bofill ab den 1990er Jahren aus dem Fachdiskurs weitestgehend zurückzog. Dennoch blieb er ein genialer Kommunikationskünstler, Manager und Ideengeber, dessen internationales Büro RBTA bis heute Großprojekte von Marokko bis China realisiert. Am Freitag starb Ricardo Bofill im Alter von 82 Jahren.


Zum Thema:

Anne Kockelkorn promovierte 2018 unter dem Titel „The Social Condenser II: Eine Archäologie zu Wohnungsbau und Zentralität am Beispiel der Wohnungsbauten von Ricardo Bofill und Taller de Arquitectura“ zu den Räumen des Abraxas und den Vorgängerprojekten von Taller de Arquitectura an der ETH Zurich.

Deidi von Schaewen hat das Werk von Ricardo Bofill von Beginn an begleitet. Für BauNetz hat sie Aufnahmen aus ihrem Archiv gescannt. www.deidivonschaewen.com


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Ricardo Bofill (1939–2022)

Ricardo Bofill (1939–2022)

Ricardo Bofill – Taller de Arquitectura: La Fàbrica, Privaträume, Barcelona, 1973-75

Ricardo Bofill – Taller de Arquitectura: La Fàbrica, Privaträume, Barcelona, 1973-75

Ricardo Bofill – Taller de Arquitectura: Les Arcades du Lac, Saint-Quentin-En-Yvelines, Paris, 1982

Ricardo Bofill – Taller de Arquitectura: Les Arcades du Lac, Saint-Quentin-En-Yvelines, Paris, 1982

Ricardo Bofill – Taller de Arquitectura: Xanadú, Calpe, 1971

Ricardo Bofill – Taller de Arquitectura: Xanadú, Calpe, 1971

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