Von Stefan Rethfeld
Mit Peter Conradi (1932–2016) ist einer der raren Architekturpolitiker gegangen. Er prägte Jahrzehnte der städtebaulichen und architektonischen Debatte in der Bundesrepublik. Sein langer, reicher Weg in der Politik führte von Stuttgart nach Bonn, von Bonn nach Berlin, und von dort schließlich wieder zurück ins heimatliche Stuttgart. Über vier Jahrzehnte engagierte er sich leidenschaftlich als wahrnehmbare Stimme auf der kommunalen, der Landes- und der Bundesebene – stets fordernd und meinungsstark. Von 1972–1998 wirkte er als Mitglied im Bundestag, von 1999–2004 als Präsident der Bundesarchitektenkammer.
Den weitgespannten Raum der Architektur entdeckte er für sich schon früh. Ein USA-Aufenthalt 1952/53 als Fulbright-Stipendiat bot ihm die Möglichkeit zum sozialwissenschaftlichen Gastjahr und zum Eintauchen in eine Gesellschaft, deren Verfassungsgrundsatz das Recht auf Streben nach dem Glück („Pursuit of Happiness“) kennt. Von dort zurückgekehrt, beschloss er, den notwendigen gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen fortan in einem Architekturstudium nachzugehen und begann an der TH Stuttgart (1953–1961) sein Studium. 1959 trat er in die SPD ein und blieb ihr ein Leben lang – wenn auch immer wieder kritisch und distanziert – verbunden.
Bereits sein Vater, Helmuth Conradi (1903–1973), war Architekt. Als Schüler von Bonatz und Schmitthenner plante er den Wiederaufbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Auch stammen die gewagten, eleganten Bahnhofsbauten in Heidelberg (1952–55), Pforzheim (1957/58) und Bietigheim (1958) von ihm. Während des Studiums konnte Conradi junior somit anschaulich das Engagement der öffentlichen Hand für zukunftsweisende Architektur verfolgen.
Wie kein parlamentarischer Architekt vor ihm verstand er es, die vielfältigen Bezüge zwischen Politik und Architektur aufzugreifen, das Grundsätzliche zu thematisieren und immer wieder baukulturelle Belange einzufordern. In seiner klaren Sprache war er einnehmend. Seine Sätze federten: Die leisen stimmten zumeist nachdenklich, die lauten nötigten jeden zur Reflexion. Kein Text ohne eine grundsätzliche Forderung, keine Rede ohne Erwartung an einen bevorstehenden Prozess. So initiierte er schon früh den Austausch zwischen Wissenschaft und Politik und forderte bis zuletzt zentrale Reformen beim Bodenrecht und im Wohnungsbau.
Doch vor allem warb er für ein zukunftsoffenes und verantwortungsvolles Bauen in der Demokratie. Geleitet von den Prinzipien des SPD-Kronjuristen Adolf Arndt („Demokratie als Bauherr“, 1960) baute Peter Conradi mit am Erscheinungsbild der Bundesrepublik: über Jahrzehnte im Bonner Regierungsviertel und ab 1990 in Berlin – dort sollten es seine wirkungsvollsten Jahre werden.
Denn mit der neuen Hauptstadt stellten sich die Bonner Programmfragen erneut, doch nun deutlich spürbar in einem symbolhaften, historisch bedeutsameren und internationalen Kontext.
Nicht Bauwerke wurden sein Werk, sondern Weichenstellungen für mutige Projekte. Ob in den Debatten zum Hauptstadt-Beschluss (1991) und zum verhüllten Reichstag (1994), in ersten Reichstagskolloquien (1992), in den Preisgerichten von Spreebogen (1993) und Spreeinsel (1994), Reichstag (1993) und Bundeskanzleramt (1994) oder zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas (1997): Es waren zumeist seine Anträge, die konzeptionell offenen, neuen Ideen weit nach vorne verhalfen.
Ohne ihn wäre Berlin vermutlich heute nicht Hauptstadt und der Reichstag nicht verhüllt worden. Weder hätte Schultes das Band des Bundes durchsetzen oder das gewagte Kanzleramt bauen können, noch Foster eine begehbare Reichstagskuppel. Auch gäbe es vermutlich graue statt blaue Sitze im Plenarsaal. Denn bei dem Gedanken, dass „graue Herren, in ihren grauen Anzügen, mit ihren grauen Haaren, auf grauen Sesseln sitzen“, da kam einem wie ihm „das Grauen.“ So ließ er sich gelegentlich zitieren.
Vieles an Gedanken und Anekdoten von ihm ist überliefert – und ein jeder, der ihn kannte, weiß Spannendes und Heiteres zu erzählen. Denn wie nur wenige wusste er produktiven Streit – den er sich auch zugespitzt immer wünschte – doch zuletzt mit Liebenswürdigkeit und Humor zu verbinden.
Peter Conradi fungierte als Architekt des Unsichtbaren. Er verstand sich im Wesentlichen als Ermöglicher. Er forderte und erwartete, er plädierte und beantragte, er vermittelte und spornte an. Kleinmut und Zukunftsangst stellte er Offenheit für das Kommende entgegen.
Das gebaute Bild der Republik wäre ohne sein Wirken heute noch grauer und verschlossener. An der Gründung der Bundesstiftung Baukultur hat er erheblichen Anteil. Und noch viel mehr: Baukultur ist gerade durch ihn auf vielen Ebenen der Republik relevanter geworden. Baukultur als ein Stück Recht auf Glück.
Peter Conradi ist am 11. März im Alter von 83 Jahren in Stuttgart gestorben.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Theresa Keilhacker | 23.03.2016 16:35 UhrEin ganz großer Ermöglicher ist leider von uns gegangen
Architektur und Gesellschaft gehörten für ihn eng zusammen, das eine war ohne das andere für ihn nicht denkbar. Der Nachruf von Stefan Rethfeld bringt es auf den Punkt: Er prägte Jahrzehnte der städtebaulichen und architektonischen Debatte in der Bundesrepublik und zeigte viele Möglichkeitsräume auf für eine gerechtere Gesellschaft. Ohne ihn wird unser Berufsstand und unsere Gesellschaft in ihrem Zusammenhalt ein Stück kleiner. Für mich war und bleibt Peter Conradi ein großes Vorbild.