Von Gregor Harbusch
Aufstockungen, Sanierungen, Ökologie, bezahlbares Wohnen, Low-Budget-Architektur und soziale Nachbarschaften – das sind nicht nur Schlagworte aktueller Debatten, es waren auch die großen Themen von Mike Wilkens, der bereits am 5. März 2023 in seiner Wahlheimat Kassel verstarb. Wenige Tage zuvor hatte er noch seinen 88. Geburtstag feiern können. Neben dem Geburtstagskuchen gab es das, was über Jahrzehnte zu Wilkens’ Markenzeichen geworden war: kubanische Zigarren.
Seit 1989 war Wilkens regelmäßig an der Universität Santa Clara auf Kuba, sein ebenso anregendes wie pointiert-unterhaltsam geschriebenes Buch Architektur als Komposition. 10 Lektionen zum Entwerfen aus dem Jahr 2000 erschien deshalb ursprünglich zweisprachig auf Deutsch und Spanisch. Nicht weniger als ein kleiner Paradigmenwechsel in der Architekturlehre sei die Vorlesungsreihe, urteilte Frank Hassenewert 2006 in seiner Dissertation über deutsche Entwurfslehrbücher seit 1945.
Wilkens entwickelt in seinem Buch ein Entwurfsprogramm, das die Logik von Bauprozess, Konstruktion und Materialität als allgemeingültige Grundlage architektonischer Komposition begreift. Es geht um nicht weniger als die Spielräume der Bauelemente und um die Arbeit an ihren strukturellen Potentialen, um die Öffnung der Architektur zum Menschen und die Abkehr vom makellosen Design.
Was abstrakt klingt, lässt sich besser verstehen, wenn man sich die Projekte von Wilkens ansieht, die er mit dem von ihm mitbegründeten Büro Baufrösche seit Anfang der 1980er Jahre realisierte. Charmant und originell zeigt sich etwa das eigene Bürogebäude im Kasseler Westen. Über einem niedrigen steinernen Sockelgeschoss erhebt sich ein anspielungsreicher Holzbau, der aus der Konstruktion heraus gedacht ist und sich innen als faszinierendes, präzise durchdachtes und kompaktes Raumgefüge zeigt.
In die documenta-Stadt Kassel kam Wilkens 1974 durch Lucius Burckhardt, nachdem er in den späten 1950er Jahren zwei Jahre durch Asien getrampt war, dann in Karlsruhe unter anderem bei Egon Eiermann studierte, um 1961 nach Berlin zu gehen und dort bis 1968 bei Paul Baumgarten zu arbeiten. Beteiligt war er etwa am Umbau des Reichstags und am Neubau für das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Neben der Tätigkeit im Büro schrieb er sich 1964 an der TU ein, um dort bei Oswald Mathias Ungers zu studieren, an dessen Lehrstuhl damals ein radikales und experimentelles Entwurfsprogramm in Abgrenzung zur blass gewordenen Nachkriegsmoderne betrieben wurde.
All diese Stationen und Einflüsse führten Wilkens zu einer programmatisch einfachen, ökologischen, zuweilen regionalistischen, immer aber am Menschen und dem konkreten Gebrauch orientierten Architektur. An der Gesamthochschule Kassel baute Wilkens den neuen Studiengang „Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung“ mit auf. 1978 gründete er mit Marcel Monard die Arbeitsgruppe Stadt/Bau, die wiederum zwei Jahre später eingeladen wurde, an der documenta urbana teilzunehmen.
Die vom damaligen Oberbürgermeister der Stadt, Hans Eichel, vorangetriebene Siedlung documenta urbana war der Versuch, im Kontext der Weltkunstschau progressive Architektur zu realisieren. Neun Teams wurden eingeladen, darunter Inken und Hinrich Baller, Hillmer und Sattler, Steidle + Partner sowie Herman Hertzberger. Eigentlich war ein konkurrierendes Verfahren geplant, doch die Architekt*innen taten sich zusammen – und zogen die junge Arbeitsgruppe der lokalen Hochschule einfach mit. Die formierte sich wiederum zum Büro Baufrösche und leistete mit ihren documenta urbana-Wohnprojekten Dönche I und II eine deutliche Standortbestimmung.
Es lohnt sich unbedingt, einen genauen Blick auf den Perspektivschnitt samt aufgeklebter Erläuterungstextchen zu den intelligent konzipierten und räumlich originellen Reihenhäusern Dönche II zu werfen, die 1982 fertig wurden und wo er seitdem auch selbst lebte. Selbstkritisch liest man dort als Schlusspunkt: „Aber eine ökologische Siedlung ist das nicht. Neubau ist nie ökologisch.“ Zu den aktuellen und kommenden Debatten um das Bauen oder Nicht-Bauen hätte Mike Wilkens sicherlich noch Einiges beizutragen gehabt.
Zum Thema:
Der documenta urbana widmete sich auch Baunetzwoche#480. In der Baunetzwoche aus dem Jahr 2017 kommt auch Wilkens „bei Kaffee und Blechkuchen“ zu Wort und erzählt von den Anfängen der Baufrösche.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Latimer | 31.03.2023 18:15 UhrMike
Ein guter Professor, ein guter Architekt und ein klasse Mensch mit Idealen, die er auch wirklich lebte.
Danke Mike, Friede sei mit Dir.