- Weitere Angebote:
- Filme BauNetz TV
- Produktsuche
- Videoreihe ARCHlab (Porträts)
10.11.2022
Grenzgänger
Zum Tod von Martin Kaltwasser
Von Christian Hiller
Kennengelernt habe ich Martin Kaltwasser 2006 bei den Vorbereitungen zur Ausstellung „Talking Cities“ in der Zeche Zollverein. Für die Installation „Der Steiger“ sammelte Martin Kaltwasser zusammen mit Folke Köbberling, Christian Maier und mir Speermüll in den Straßen von Essen-Katernberg, eine der ärmsten Gegenden des Ruhrgebiets. Wir fragten stets freundlich nach alten Baumaterialien und Resthölzern, die zur Konstruktion des „Steigers“ geeignet waren und stießen auf jede Menge Verwunderung. Wie und warum sollte man aus Abfall Kunst oder gar Architektur machen? Aber aus den alten Brettern und Plexiglasresten bauten Martin, Folke und Christian mit einigen Unterstützer*innen dann mitten in der Ausstellung die Aussichtsplattform „Der Steiger“ – benannt nach den Bergmännern des Ruhrgebiets. Die Arbeit wurde zum Statement für die unmittelbare und heiter improvisierende Aneignung und Umnutzung „entsorgter“ Materialien, für ein ökologisches und soziales Umdenken, wie es heute wichtiger denn je ist.
Martin Kaltwasser, 1965 in Münster geboren, hatte Kunst in Nürnberg studierte, lebte und arbeitete ab 1988 in Berlin, wo er bis 1997 Architektur studierte. Disziplinübergreifend war er als Grenzgänger zwischen Architektur, Kunst und Aktivismus unterwegs. Nach „Talking Cities“ blieben wir im Kontakt und ich war immer wieder fasziniert von seinen visionären Projekten, die er bis 2013 im Team mit Folke Köbberling zunehmend auch international verwirklichte. Legendär ist das „Jellyfish Theatre“, das die beiden 2010 mit mehr als 100 Freiwilligen auf dem Sportplatz einer Grundschule in der Londoner Innenstadt realisierten. Aus Baugerüsten, Materialabfällen, ausrangierten Bühnenkulissen und Europaletten entstand ein experimenteller Theaterbau mit 130 Plätzen und öffentlichem Vorplatz. Partizipation und Teilhabe standen immer zentral in Martin Kaltwassers Arbeiten. Nicht nur in dem Sinne, dass Freiwillige den Künstler*innen praktisch halfen, sondern dass sie integraler Teil des gesamten Gestaltungsprozesses wurden. Im selben Jahr wurde von einer Gruppe junger Architekt*innen, Künstler*innen und Gestalter*innen in London Assemble Studio gegründet, die vergleichbare partizipative Gestaltungsansätze wie Köbberling & Kaltwasser verfolgten und später als erste Architekt*innengruppe mit dem Turner Prize ausgezeichnet wurden.
Auch Martin Kaltwasser ist mit zahlenreichen Preisen ausgezeichnet worden, Stipendien führten ihn unter anderem nach Cambridge, Los Angeles, Warschau, Prag, Vancouver und Lagos. Seine Arbeiten wurden weltweit ausgestellt und realisiert. In Santa Monica bei Los Angeles, einer Region, die wie kaum eine andere von automobiler Kultur geprägt ist, nahmen Köbberling & Kaltwasser alte Autos auseinander und bauten aus den Einzelteilen Fahrräder. Diese Arbeit „Cars into Bicycles“ (analog zu: Schwerter zu Pflugscharen) steht programmatisch für seinen künstlerisch-gestalterisch-aktivistischen Ansatz. Aus den Instrumenten einer überholten Gesellschaft wurden Visionen für die Transportmittel einer neuen, postfossilen Welt. Dabei ging es ihm nicht darum, als Gestalter persönliche Ansichten umzusetzen, sondern um Prozesse der Teilhabe. Die Beteiligten erlernten dabei handwerkliche Fähigkeiten wie Metallbau und Schweißen – und gleichzeitig das kritische Bewusstsein, um die veralteten Logiken des Kapitalismus zu überwinden und Mittel zur Transformation in eine neue, sozial und ökologisch gerechtere Gesellschaft zu entwickeln.
Die Kritik an und Auseinandersetzung mit der Autogesellschaft blieben zentrale Anliegen in Martin Kaatwassers Leben und Werk. Nicht nur, dass er konsequent auf fossile Transportmittel verzichtete, er organisierte auch vielfältige performative und gestalterische Aktionen, die die Vorherrschaft des Automobils im urbanen Raum kritisierten. Jahre vor den aktuellen Protesten der Letzten Generation entstanden neben dem Langzeitprojekt „Cars into Bicycles“ weitere Skultpuren, urbane Interventionen und Aktionen wie „Bleibabybobbycar“ oder „Platz da für mein SUV!?“ und „Mein Auto! Meine Straße! Mein Kiez!“, die sich mit einer gehörigen Portion Ironie gegen die autogerechte Stadt richteten. Die Installation „Los Angeles Garden“, ein 1:1-Nachbau eines kalifornischen Autoparkplatzes mitsamt Palmen, kann in den Gärten der Welt bewundert werden.
In den letzten Jahren trafen wir uns öfters in der „Floating University“, wo er meist mit schwerem Werkzeug in der Hand unermüdlich an der „Floating Sports Hall“ arbeitete, oder Kindern geduldig den Umgang mit Akkuschrauber, Hammer und Säge vermittelte. In der Floating habe ich ihn eine Weile bei der Arbeit beobachten können. Martin hat alles mit vollem Einsatz gemacht, aber auch mit unglaublicher Liebe zur Arbeit, den Details und dem Material. Jedes Reststück hatte für ihn einen Wert. Er betrachtete die Materialien, bearbeitete sie und montierte sie zu einen Architekturensemble, das gleichzeitig von Spontanität und sorgfältiger Anordnung geprägt war. Alles war funktionell und humorvoll zugleich.
2019 erhielt er die Professor für Plastik am Institut für Kunst und materielle Kultur an der TU Dortmund. Nachdem er viele Jahre an nationalen und internationalen Universitäten als Lehrtätiger sein Wissen vermittelt hatte, bedeutete ihm die Möglichkeit, in seiner Heimatregion langfristig ein Institut mitzugestalten und die Studierenden dort zu begleiten, besonders viel. Anfängliche Verwunderung über seine experimentellen Herangehensweisen wichen zunehmend der Anerkennung seines Lehransatzes, der wie folgt auf der Webseite des Instituts beschrieben ist und sowohl sein Konzept der Wissensvermittlung als auch seine eigenen Gestaltungsprinzipien wunderbar beschreibt: „Plastik bedeutet: mit allen Materialien, mit allen Werkzeugen arbeiten, analog und digital, an allen Orten arbeiten, mit Grenzen und Grenzenlosigkeit arbeiten, experimentelles Forschen und Spielen mit Raum und Körper, Zweidimensionalität, Dreidimensionalität, Vierdimensionalität, etc. Komplexität und Widerspruch; Erforschen von Linie, Fläche, Raum, Maß, Mensch, Stadt; kritischer Umgang mit Phänomenologien des Alltags, mit den Lebensbedingungen des Menschen, mit Utopien und Wahrscheinlichkeiten; Macht und Ohnmacht der Ideen; Entscheidungen fällen und Kritikfähigkeit erlernen.“
Zuletzt sahen wir uns noch auf meiner Geburtstagsparty Anfang Oktober. Martin sprach lange mit meiner Mutter, die im Ruhrgebiet lebt. Mit seiner Partnerin Katja Szymczak sah er sehr glücklich aus – und jetzt diese Nachricht. Martin Kaltwasser starb am 29. Oktober in der Berliner Charité. So urplötzlich und unerwartet, so krass aus dem Leben gerissen. Er wird sehr fehlen.
Dieser Nachruf erscheint parallel im BauNetz und auf der Webseite der Zeitschruft ARCH+.
Kommentare:
Kommentar (1) lesen / Meldung kommentieren