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04.01.2021

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Zerstöre mit Verstand!

Zum Tod von Luigi Snozzi


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Von Hubertus Adam

1979 skizzierte Luigi Snozzi eine Studie zum Wiederaufbau des 40 Jahre zuvor zerstörten Braunschweig: Die Trümmer der Altstadt werden zu einem gewaltigen, der Oker und dem Stadtgraben folgenden, mauerartigen Wall aufgeschichtet. Die Grundmauern wichtiger historischer Gebäude werden freigelegt. Snozzi spricht von einer planerischen Radiographie der alten Stadt – von einem neuen Pompei! Die neuen Siedlungsbereiche erstrecken sich außerhalb des von Wall und Wasser begrenzten Ruinenfelds. Brücken und Durchgänge sind die einzigen Verbindungen zwischen der Stadt der Lebenden und der Toten.

Die skizzenartige Braunschweig-Studie ist symptomatisch für das Denken des 1932 in Mendrisio geborenen Tessiner Architekten: Provokativ stellt sie den tatsächlichen Wiederaufbau mit Traditionsinseln und spätmoderner Stadtplanung ebenso in Frage wie eine pseudohistorische Rekonstruktion des Alten. Snozzi fokussiert nicht auf Einzelbauten – die Neubauflächen sind durch orthogonale Rasterstrukturen allenfalls angedeutet –, sondern auf die für Braunschweig wichtigen Charateristika: den Fluss Oker, die Brücken, die radial ausstrahlenden Straßen, Teile der historischen Stadttextur.

Die Analyse des Vorhandenen stand bei Snozzi stets am Anfang des Entwurfs – die Auseinandersetzung mit Ort, Territorium und Stadt. Einzelne Elemente, die als wichtig angesehen werden, bilden den Ausgangspunkt des Projekts. Dabei bedeutet jeder Eingriff Zerstörung. Einer seiner legendären, während Snozzis Zeit als Gastdozent an der ETH Zürich entstandenen Aphorismen lautete: „Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung, zerstöre mit Verstand.“

Snozzi studierte an der ETH Zürich. Danach kehrte er ins Tessin zurück und eröffnete 1958 nach kurzer Mitarbeit bei Peppo Brivio und Rino Tami sein eigenes Architekturbüro in Locarno. Die ersten Einfamilienhäuser orientierten sich noch an der seinerzeit gerade im Tessin hoch im Kurs stehenden Formensprache von Frank Lloyd Wright, dann wurde Snozzis Architektur reduzierter. In den 60er Jahren arbeitete er mit seinem einstigen Studienkollegen Livio Vacchini zusammen.

Die junge Architekturszene des italienischsprachigen Kantons trat damals mit einem Kollektiventwurf für den Neubau der EPFL in Lausanne erstmals in Erscheinung. Die Ausstellung „Tendenzen – Neuere Architektur im Tessin“ an der ETH 1975, die zeitlich mit dem Ende von Snozzis Gastdozentur korrelierte, führte schließlich zum internationalen Durchbruch der jüngeren Tessiner Architektur. Eine „Tessiner Schule“, wie es rückblickend gerne heißt, bildeten die Akteure freilich nicht. Dafür waren ihre eigenen Haltungen und Architektursprachen zu unterschiedlich.

Mit der Casa Kalman (1974–76) in Minusio realisierte Snozzi eines seiner wichtigsten Werke. An einem extremen, leicht gekrümmten Steilhang entstand ein Einfamilienhaus mit Pergola und Terrasse, das die Topografie erlebbar werden lässt und das mit seiner Formensprache kräftig und doch auch zurückhaltend auftritt. Snozzi baute keine Solitäre, er orientierte sich weniger an Aldo Rossi als an Carlo Aymonino. Ihn interessierte nicht das Einzelobjekt, sondern dessen Beziehungen zur Umgebung. Seine Architektur blieb zurückhaltend, nüchtern, drängte sich nicht in den Vordergrund. Das führte nicht zu den städtebaulichen Ikonen, die viele Auftraggeber sich wünschen, und so blieben fast alle seiner vielen, auch internationalen Wettbewerbsbeiträge ohne Erfolg.

Daher ist es ein Glücksfall, dass Snozzi zumindest in Monte Carasso seit 1977 seine städtebaulichen Vorstellungen umsetzen konnte. Der gesichtslose Vorort von Bellinzona wurde und wird auf Basis eines von ihm erarbeiteten Richtplans über Jahrzehnte neu strukturiert und zu einem lebendigen Ort. Das verfallene Kloster wurde tiefgreifend umgebaut und avancierte zum Nukleus einer städtebaulichen Reaktivierung. An einer Ringstraße reihen sich die öffentlicheren Bauten, dahinter liegen die Wohnquartiere. „Es gibt nichts zu erfinden, alles ist wiederzuerfinden.“, lautete ein weiterer von Snozzis Aphorismen.

Das Beispiel Monte Carasso lehrt, wie Snozzi aus der Analyse des Vorgefundenen etwas Neues schuf. Das Resultat ist eine sozial verantwortliche Architektur, die dem bekennenden Sozialisten – der einmal mit Paulo Mendes da Rocha im Vorlesungssaal die „Internationale“ anstimmte – besonders am Herzen lag. Die Leidenschaft für die Potentiale der Architektur übertrug er auch auf seine Studierenden, vor allem als Entwurfsprofessor an der EPFL zwischen 1985 und 1997.

Wenn sich die Absolvent*innen einer Architekturschule eines Tages nicht in den Büros verwerten ließen, habe die Schule einen großen Schritt nach vorne gemacht, war sein Credo. Am 29. Dezember 2020 ist Luigi Snozzi an den Folgen einer COVID-19-Infektion gestorben.


Zum Thema:

Mehr zu Luigi Snozzi in der BAUNETZWOCHE#198.


Kommentare
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.

9

Benedikt Hotze | 06.01.2021 23:30 Uhr

@Designer

Nun, die Casa Kalman hat er dann doch gebaut, und sie ist eines seiner besten, zumindest seiner bekanntesten Projekte geworden – unbebaubare Hanglange, und auch noch falsch zum "buona vista" gelegen – deshalb gibt es ja diesen Ausleger, der zum Belvedere führt...

Weniger bekannt ist die Casa Heschl, aber es war ein "Archithese"-Artikel darüber aus den 80ern ("Wie ich zu meinem Traumhaus kam"), der mich dazu brachte, zwei Semester bei ihm zu studieren.

Ich zitiere sinngemäß aus dem Gedächtnis:

Frida Heschl war eine einfache, rechtschaffene Frau, die ihr Leben lang in dienenden Berufen gearbeitet hatte. Sie hatte etwas Geld gespart und wünschte sich ein kleines Häuschen zu bauen. Ihr schwebte regionalistische Tessiner Architektur vor. Man empfahl ihr den Architekten Snozzi, und der lieferte einen ikonischen Sichtbeton-Entwurf. Die arme Signora Heschl war verzweifelt, weil die Küche im Wohnraum lag, aber auch wegen des Baumaterials. Snozzi bot an, ihr Adressen anderer Architekten zu geben.

Er sagte dann noch: "Signora, riecht es bei Ihnen so schlecht, wenn Sie kochen?" Und: "Was haben Sie gegen Beton? Er besteht aus Kies, Sand und Wasser!"

Schließlich bekam er den Auftrag, und das Häuschen wurde nach Snozzis Plänen gebaut. Erst wesentlich später wurde mir klar, dass ich mit dem "Archithese"-Artikel eigentlich einer manipulativen Berichterstattung über eine architektonische Heldengeschichte aufgesessen war, die so nicht stattgefunden hat. Denn Signora Heschl hat später kundgetan, dass ihre Kritik am gebauten Haus weiter bestehe...

8

Kim | 06.01.2021 14:58 Uhr

@Benedikt Hotze

Wunderbar Snozzi zuzuhören! Vielen Dank für den tollen Link!!!

7

Slate | 06.01.2021 01:17 Uhr

Mein prof heisst halbach

Um mit einem legendären baunetz-kommentar zu kontern: wo hat der denn studiert? Schade, dass relevante diskurse erst bei den Todesnachrichten der Kollegen entstehen. Wobei "Relevanz " ist ein großes Wort...

6

Andreas K aus MS | 05.01.2021 22:35 Uhr

Danke

Liebe Marika,
ich möchte mich Elke anschließen. eine wirklich herzerwärmende und motivierende Pointe eines echten und in vielerlei Hinsicht vorbildlichen, authentischen Originals; vielen Dank dafür:-)

5

Benedikt Hotze | 05.01.2021 12:26 Uhr

Snozzi-Sound

Vielen Dank, liebe Marika, für diesen wunderbaren geschriebenen Original-Ton. Ich höre Snozzi schon beim Lesen und sehe ihn vor mir!

Wenn ihr noch mehr von ihm (auf Deutsch) hören wollt: In der Baunetzwoche 198 (Link im Artikel) ist auf Seite 10 eine Audiodatei eines Interviews verlinkt, das ich 2010 mit ihm führen konnte.

4

Elke Stamm | 05.01.2021 10:17 Uhr

Wunderschön!

Marika Schmitt, was für ein schöner, herzerwärmender Kommentar! :-) Das sollten wir uns alle ausdrucken und groß an die Wand hängen!

3

Pekingmensch | 05.01.2021 09:19 Uhr

Spannweiten

In den 90er Jahren war er an der TU Dresden zu Gast bei den Spannweiten-Vortraegen von Prof. Falk Jaeger. Ich erinnere mich, dass das Braunschweig-Projekt war dabei, die Casa Kalman und die vielen klugen, verschmitzten Aphorismen. Der Mensch Snozzi und seine Projekte sind mir in angenehmer Erinnerung geblieben.

2

Designer | 04.01.2021 18:03 Uhr

Schöner Bauen

Hätte Luigi Snozzi mehr bauen dürfen, ich bin mir sicher unsere Welt wäre schöner.

In einem Artikel zur Casa Kalman hat er einmal erzählt wie die Bauherren zu ihm gekommen sind und ihn um Rat fragten.
Sie erzählten von dem Grundstück mit Steilhang was sie gekauft haben und fragten ihn was er denkt was man damit machen könnte.
Die Antwort von Snozzi: Verkaufen! Sofort verkaufen!

1

Marika Schmidt | 04.01.2021 16:06 Uhr

Luigi Snozzi

2015 hielt Luigi Snozzi einen Vortrag an der TU Berlin. Im Anschluss daran stellte Kaye Geipel folgende Rückfrage - Transkript einer Tonaufnahme:

Kaye Geipel:
"Sie haben über Projekte erzählt, die hauptsächlich eine große Antizipation ausgelöst haben. Viele dieser Projekte wurden nicht realisiert, können Sie noch was dazu sagen, zu der Enttäuschung, die daraus entstand, dass sie (Anm: die Projekte) nicht realisiert wurden?"

Luigi Snozzi:
"Entschuldigung, ich habe nicht richtig verstanden, nicht gut verstanden! Können Sie wiederholen?"

KG: "Auf Französisch?"

LS: "Wie Sie wollen. Auch!"

KG: (stellt Frage auf Französisch)

LS: "Wenn ich richtig verstanden - Sie wollen dass ich etwas sage über diese Projekte, oder.."

KG: „..über diese Projekte, genau"

LS: "Aber was muss ich sagen über diese Projekte? Sie müssen mir sagen, was ich sagen muss!"

KG: (übergibt an Übersetzung auf Italienisch)

Donatella Fioretti übersetzt auf Italienisch.

Luigi Snozzi:
"Ich muss sagen dass, von über hundert Projekte, ich realisiere ein oder zwei – ist meine Art zu leben, ja?.

Darum ich habe auch einen Vorteil: Alle diese Projekte, die nie gebaut wurden, ja?. Aber wenn ich in eine Stadt gehe, wo ich ein Projekt gemacht habe, ich sehe mein Projekt. Alle anderen sehen es nicht. Und ich sehe die Stadt, die wunderschön wird. Und das ist ein Gefallen, den ich selber mir mache. Ich schenke mir dieses Projekt für mich. Allein."

 
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