Von Jochen Becker
Einer der wichtigsten und zugleich maßlos unterschätzen Architekten der späten Moderne ist am 2. August im Alter von 95 Jahren gestorben. Der am 13. März 1927 geborene belgische Architekt Lucien Kroll nahm geduldig Ideen der künftigen Nutzer*innen auf und scheute sich dabei auch nicht vor kunterbunten und zugleich nachhaltigen Lösungen aus gestaffelten Dächern, frivolen Farben und urbanen Gestaltungsmustern, die Vielfalt in sich tragen. Rem Koolhaas gestand 2012 in einem Gespräch mit Kroll, dass er dessen Arbeit in den 1970er Jahren anfangs „absolut abscheulich“ fand. Aber jetzt sei er „in der Lage, seine Schönheit zu verstehen“.
Krolls Atelier d’Urbanisme, d’Architecture et d’Informatique hatte zu jener Zeit mit seinem ikonisch wuchernden La Mémé-Komplex (1969–72) der Medizinischen Hochschule am Rande von Brüssel eine Landschaft studentischen Lebens geschaffen. Der Antrag kam in den 1968er Jahren von Studierenden, die – abgeschreckt durch den klotzigen Klinikneubau – massiv gegen eine hohldrehende Moderne opponierten. Und so nahm Kroll die Wünsche und Erwartungen der künftig dort Lebenden ernst und baute mit ihnen eine flexibel anpassbare Hochstapelei von Räumen, Durchwegungen, Ausblicken und Trefforten.
Der multifunktionale Komplex wirkt wie eine riesige 3D-Collage mit frei teilbaren Böden und Innenwänden, die die Nutzer*innen nach Belieben verschieben können – was häufig vorkam. Parallel sorgte sich seine Frau Simone noch lange um die wilden Gärten, während die Bauarbeiter freie skulpturale Ornamente und Figuren aus Ziegelstein beisteuerten. Kroll erhielt jedoch noch vor der Fertigstellung ein „Gerüstverbot“ und konnte seine Arbeit lange Zeit nicht fortsetzen. Der später von ihm überformte U-Bahnhof Alma (1979–82) bündelte noch einmal gleich einem Dorfbrunnen alle sozialen Aktivitäten rund um die Wohnheime.
Der aus einer schlesisch-luxemburgischen Familie stammende Atelier-Patriarch realisierte zahlreiche Wohnkomplexe, Kinderhorte oder Schulgebäude in Benelux, in Frankreich sowie Ruanda. Das Internat für Autisten oder Trebegänger La Maison Familiale „Le Soleil Levant“ (1965) bei Waterloo, das die Wohn- und Lehrsituation in großzügigen Räumen und mit selbst entworfenem Mobiliar ineinander verwoben hatte, musste später leider verändert werden, weil verschiedene Behörden auf die Trennung der Funktionen beharrten. Doch noch heute steckt ein libertärer Geist in dem flach bebauten Areal.
Der um einen Hof herum extrem verdichtete Komplex De Zilvervloot (1999–2005) aus Wohnen und Supermärkten entstand im niederländischen Dordrecht, während die klug zusammengewürfelte Siedlung in Marne-la-Vallée (1986) bei Paris zwischen Suburbia und Dorf changiert. Das eigene Wohn- und Arbeitshaus in Brüssel (1961) wiederum, das hoffentlich zum lebendigen Archiv der Krolls umgewandelt werden kann, lässt noch die Faszination an der klassischen Moderne erkennen und entstand als eine frühe Form der Baugruppe. Insgesamt zeigt sich hierbei die enorme Spannbreite seiner Arbeit. Schon früh nutzte er den Computer, um mit selbstgeschriebenen Programmen eine Vielfalt von Variationen kostengünstig zu produzieren.
Nach der Wende berief die Ostberliner Wohnbaugesellschaft WoGeHe das Brüsseler Büro in die Hellersdorfer Großsiedlungen. Zuvor hatte Kroll schon Projekte in Dresden und auch Leipzig beratend begleitet. 1994 traf Kroll geschockt im Berliner Außenbezirk ein und wollte erst einmal diese „militärische“ Ansammlung von Plattenbauten „zivilisieren“. Doch als Vorkämpfer gegen die Verschwendung der grauen Energie des Gebauten war nicht Tabula Rasa angesagt. Vielmehr trat er gemeinsam mit den dort ja längst Wohnenden einen über 25 Jahre projektierten Prozess der permanenten Umwandlung los. Um allen ein Bild davon zu geben, baute er mit ihnen eine zirzensische Stadtlandschaft aus Pappe, trug auf Papier manche Stockwerke ab und ließ woanders die Platte rhizomatisch wuchern. Modulare Komponenten boten hierbei günstige Bausteine der Veränderung.
Krolls Entwurf artikuliert beispielhaft eine Zukunftsvision für die Großsiedlungen am Rande unserer Städte, die an Aktualität nicht eingebüßt hat. Das Atelier Kroll entwickelte einen architektonischen und ökologischen Werkzeugkasten, eine „Teilemaschine“ (so sein ehemaliger Mitarbeiter Dag Boutsen), um auf zukünftige Veränderungen schlau zu reagieren. Zudem sollten von Anwohner*innen durch selbstdefinierte Erweiterungen die Siedlung am Leben erhalten. Denn „die Vielfalt der Nachbarschaft gibt den Ton an und nicht die einfache Handhabe für Bauunternehmen oder die Bequemlichkeit für die Verwaltung“. Leider scheiterte das Projekt schon früh an der schnöden Realität, weshalb nur mehr Rankgitter, Vordächer und Palisadenwände zu sehen sind. Allerdings hinterließ Kroll eine französischsprachige Publikation, die noch 30 Jahre später wie ein Leitfaden in eine zivilere Zukunft weitergereicht werden kann.
Zum Thema:
Der Autor arbeitet gemeinsam mit Jesko Fezer an einer Publikation zu Lucien Kroll in Berlin-Hellersdorf, die im adocs Verlag erscheint. Zum Projekt in Hellersdorf fand Anfang des Jahres eine Ausstellung statt.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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jochen becker | 10.08.2022 19:49 Uhrversteckt rückschrittlich
Liebe/r spacearc,
das Villa-Kunterbunt-Bild war ein Notbehelf, weil die Wohnbaugesellschaft schon vorab wissen wollte, wie es nach all den Prozessen aussehen könnte. Modernes Bewußtsein zeigt sich, die bauindustrielle Moderne als pure Form zu kritisieren, aber den sozialen Gehalt der (klassischen) Moderne zu verstehen. Das ist sicherlich nicht rückschrittlich, aber vielleicht auch nicht fortschrittlich im Sinne der voranmarschierenden Nachkriegs-Moderne. Kroll wollte eine zivile Moderne; deshalb ist er im üblichen Verständnis auch nicht postmodern... (so wie Venturi/Scott Brown ebenfalls die "heroische" Moderne kritisieren, weil sie sie besser verstanden haben als manche Kopisten).
Beste Grüße, der Autor