Von Susann Buttolo
Der Hochschullehrer und Architekt Leopold Wiel zählte zu den bekannten Protagonisten im Architekturgeschehen der SBZ/DDR. Mit seiner Entwurfs- und Werklehre prägte er Generationen von Student*innen und schrieb sich gleichzeitig mit wegweisenden Entwürfen in die ostdeutsche Architekturgeschichte ein. In seiner Wahlheimat Dresden bleibt er vor allem als Ideengeber für das Kulturhaus am Altmarkt in Erinnerung, das bei den Parteifunktionären zunächst wegen fehlender Signifikanz in der Stadtsilhouette in Misskredit geriet, später aber als Vorlage für den später von Wolfgang Hänsch (1929-2013) realisierten, 1969 eröffneten Kulturpalast diente. Nach einem langen, schaffensreichen Leben ist er am 26. Februar 2022 im Alter von 105 Jahren verstorben.
Leopold Wiel wurde noch im Kaiserreich im westfälischen Elberfeld geboren. Nach kurzer Maurertätigkeit und der Ausbildung zum Ingenieur mit der Fachrichtung Hochbau an der Höheren Technischen Lehranstalt für Hoch- und Tiefbau in Wuppertal zog es ihn nach Weimar. Dort studierte er von 1938 bis 1940 an der Hochschule für Baukunst und Bildende Künste Architektur. Nach dem Kriegsdienst, bei dem er in der Schlacht um Stalingrad lebensgefährlich verwundet wurde, kehrte er nach Weimar zurück und gründete mit Friedrich Schwertfeger ein Architekturbüro.
In den ersten Nachkriegsjahren fertigte er in Weimar unermüdlich detailgetreue Aufmaße von kriegszerstörten Baudenkmalen an, um so ihren späteren Wiederaufbau zu sichern. In der Folge erhielt er 1948 einen Lehrauftrag für Bauaufnahme an der Hochschule für Baukunst und Bildende Künste Weimar. Ein Jahr später wurde er dort Dozent für Werklehre und Entwerfen und begann sich – angeregt von Heinrich Rettig – mit der Neuordnung der Baukonstruktionen auf den Grundlagen einer einheitlichen Maßordnung zu beschäftigen. Rettig war es auch, der ihn 1951 an die Architekturabteilung der TH Dresden holte.
Dort begann Wiels einflussreiche, nahezu vier Jahrzehnte währende Lehrtätigkeit an der TH/TU Dresden, die er als Professor mit Lehrstuhl für Werklehre und Entwerfen (ab 1957) und ordentlicher Professor für Hochbaukonstruktionen (ab 1969) fortschrieb. Dabei vermittelte er seinen Student*innen nachdrücklich, dass das Entwerfen nicht allein auf einem von Funktionalität und Ästhetik getragenen Ideenfindungsprozess beruhen dürfe, sondern auch auf den konstruktiven Belangen des Bauens. Seinen Lehransatz, die Baukonstruktionen auf einer konsequent angewandten Maßordnung aufzubauen, um eine Ordnung des Baugefüges und so eine Vereinfachung des Herstellungsprozesses zu erreichen, veröffentlichte er 1955 in dem viel beachteten Lehrbuch „Baukonstruktionen unter Anwendung der Maßordnung im Hochbau“. 1967 folgte das Buch „Baukonstruktionen des Wohnungsbaues“, das bis 1990 in zwölf Auflagen erschien.
Als Entwurfsarchitekt schrieb sich Wiel mit nicht selten zu den Beschlüssen der SED konträren Ideenvorschlägen in die Planungs- und Baugeschichte der DDR ein. So entstanden an seinem Lehrstuhl ab Mitte der 1950er Jahre Entwürfe, die in Grund- und Aufriss dem Anspruch des gestalterischen Freiraums folgten und städtebaulich auf Variabilität zielten. Ein Novum waren seine 1957 in Berlin-Karlshorst realisierten Experimentalbauten mit vorgefertigten Großblöcken aus Ziegelsplittbeton. Sein wenig später, ebenfalls in Berlin realisierter Wohnungstyp „Qx“ mit geschosshohen Montageelementen kam aber aus politischen Gründen nicht zur seriellen Ausführung.
Überdies entwarf Wiel zahlreiche industrielle Wohnungsbauten mit Weitblick: Wohnbauten mit Funktionsüberlagerung als Alternative zur funktionsgetrennten Stadt, plastisch geschwungene Baukörper, die die strenge und oft monotone Linearität von Wohnsiedlungen aufbrechen sollten, oder Entwürfe, die die topografischen Verhältnisse der jeweiligen Siedlung mit einbezogen – sie alle wurden nicht realisiert, prägten aber seine Lehre und damit seine Student*innen. Mit Interesse wurde sein Wirken auch hinter dem Eisernen Vorhang verfolgt, denn seine Entwurfshaltung war von der internationalen Architekturmoderne inspiriert, die – im Gegensatz zu anderen Protagonisten der Nachkriegsmoderne – jedoch nicht radikal modern war, sondern bedachtsam die besonders wertvollen Architekturleistungen vorangegangener Epochen einbezog und in eine zeitgemäße Architektursprache übertrug.
Großen Wert legte Wiel aber darauf, dass sein Werk als kollektive Leistung seines Lehrstuhls wahrgenommen wurde, auch in Kooperation mit anderen Lehrstühlen oder Institutionen, mit der Baupraxis und seinen Studenten. Seine markant gerade und aufrechte Figur sowie professorale Ausstrahlung unterstrich bis zuletzt seine beeindruckende, mit Selbstdisziplin gepaarte Geradlinigkeit, mit der er als Architekt und Hochschullehrer für seine stets bis ins Detail durchdachten Entwürfe und Projekte sowie als Mensch für seine Ideale und Positionen eintrat.
Zum Thema:
Der Nachlass von Leopold Wiel befindet sich im Archiv der Stiftung Sächsischer Architekten in Dresden.