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09.09.2021

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Ingenieur und großer Lehrer

Zum Tod von Jörg Schlaich


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Von Werner Sobek

Es fällt mir schwer, so kurz nach dem Tod meines großen akademischen Lehrers Jörg Schlaich etwas über ihn zu sagen. Ich hatte das Glück, bereits als junger Doktorand ab 1982 viele Abende lang mit ihm vor der gerade an seinem Institut entstehenden Diasammlung zu sitzen, Bilder zu sortieren oder neue Vorträge zusammenzustellen. Die auf meine vielen Fragen hin folgenden Erläuterungen und Gespräche waren für mein Verständnis von Jörg Schlaich und seiner Arbeit, aber auch für mein eigenes zukünftiges Schaffen von ausschlaggebender Bedeutung. Und sie waren der Beginn eines lange anhaltenden, vertrauten Austauschs. Vielleicht bezog er sich auf diese frühen Stunden des „Köpfe-Zusammensteckens“, wenn er mich noch viele Jahre später seinen Schüler nannte.

Jörg Schlaich, der zu den herausragendsten Ingenieuren des 20. Jahrhunderts gehörte, wurde 1934 in Stetten im Remstal nahe Stuttgart geboren. Parallel zur gymnasialen Ausbildung machte er eine Lehre als Schreiner, was ihm zeitlebens ein tiefes Verständnis für die Fragen des handwerklichen Schaffens gab. Auf das Studium und einen kurzen Aufenthalt in den USA folgte – nach der Promotion in Stuttgart und einer kurzen Tätigkeit in einem Bauunternehmen – der Eintritt in das Büro Leonhardt und Andrä, der damals wohl weltweit ersten Adresse für alles, was mit Tragwerksplanung zu tun hatte. Schlaich übernahm dort schon bald die Leitung großer und schwieriger Projekte, beispielsweise die Planung mehrerer Fernsehtürme oder des Alster-Hallenbades in Hamburg. Dass Fritz Leonhardt ihn zum Chefingenieur für die Bauten der Olympiade in München 1972 ernannte, war eine weise und glückliche Entscheidung. Kaum jemand anderes hätte die damit verbundene Komplexität, die enormen – auch wissenschaftlichen – Probleme besser auf die Ebene des tatsächlichen Verstehens übertragen und lösen können als er. Viele Innovationen und Weiterentwicklungen, beispielsweise die Wiedereinführung von Stahlguss in das Bauwesen, die Dacheindeckungen aus PMMA oder das Bauen mit Seilen, gehen auf die Bauten in München zurück.
 
1974 übernahm Schlaich von Leonhardt den berühmten Lehrstuhl für Massivbau an der Universität Stuttgart. Er leitete das Institut bis zum Jahr 2000. Zu seinen wichtigsten akademischen Leistungen gehören die Weiterentwicklung, die wissenschaftliche Fundierung und das Einbringen der Methode der Stabwerksmodelle in das baupraktische Schaffen – ihre Anwendung ist heute weltweiter Standard. Zusammen mit Kurt Schäfer, ebenfalls Professor am Institut, gelang es Schlaich erstmalig, das nur sehr schwer vollständig erfassbare Tragverhalten von Stahlbeton auf Basis einer Approximationsmethode – der Stabwerksmodelle – hinreichend genau zu beschreiben und diese Methodik der Beschreibung in die Praxis umzusetzen.

1980 kam die Gründung des eigenen Büros Schlaich und Partner, das später in Schlaich Bergermann und Partner umfirmierte und schnell zur weltweiten Spitzengruppe der Ingenieurbüros für Tragwerksplanung gehörte. Neben vielen innovativen Hochbauten waren es die Jörg Schlaich am Herzen liegenden Brücken, die diesen Ruf begründeten und festigten. Insbesondere seine Fußgängerbrücken waren stets Kunstwerke für sich – eine perfekte Vereinigung von ästhetischem Ausdruck und tragwerksplanerischer Raffinesse. Diese Bauaufgabe, mit der er sich vertieft seit etwa der Mitte der 1970er Jahre auseinandersetzte, bewirkte auch eine Veränderung und Erweiterung seiner Interpretation des Ingenieurschaffens. Deutlich wird dies an einer ersten Publikation zum Thema mit dem Titel „Brücken zum Anfassen“, in der erstmals die Bedeutung der taktilen Qualitäten eines Ingenieurbauwerks beschrieben wurde.

Die Konsequenz hieraus war die Neuausrichtung vieler seiner Lehrinhalte und die Intensivierung der Zusammenarbeit mit einigen Architekten der Fakultät für Architektur der Universität Stuttgart. Die Befähigung der Ingenieursstudent*innen zum Entwerfen und damit natürlich auch die Befähigung zur Übernahme der Verantwortung für die von ihnen geplanten Bauwerke wurde zum Zentrum seines Denkens. Konsequenterweise wollte er dann auch – gegen massive Widerstände in  der Bauingenieurs- und Architekturprofessorenschaft – sein Institut von „Massivbau“ in „Entwerfen und Konstruieren“ umbenennen. Nur mit viel Hintergrundarbeit und gleichzeitig massivem Druck ließ sich die Sache durchsetzen. Der Kompromiss lässt sich am Namen ablesen: „Institut für Konstruktion und Entwurf“.

Jörg Schlaich war einer der wenigen, die den Spagat zwischen Wissenschaft und baupraktischer Umsetzung stets in sich getragen, aber auch stets gemeistert haben. Er war extrem zielorientiert und durchsetzungsstark, Qualitäten, die Außenstehende nie so richtig wahrgenommen haben – vielleicht auch deshalb, weil Jörg Schlaich stets von einem sehr angenehmen, freundlichen und bescheidenen Auftreten umgeben war. Ohne seine Durchsetzungsstärke jedoch wären die vielen Innovationen, die er zeitlebens in das Bauschaffen eingebracht hat, nicht möglich gewesen.

Jörg Schlaich verstarb am 4. September 2021 in Berlin. Die weltweite Gemeinschaft der Bauingenieur*innen verliert mit ihm einen ihrer bedeutendsten Vertreter.


Kommentare
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.

4

solong | 10.09.2021 09:28 Uhr

... einer der großen ...

... beflügelnden "flammen" der tragwerksplanung ... gerade im täglichen umgang mit dem ... "mittelmaß" dieses fachbereichs ... sehnt man sich nach ingenieuren seines schlages ... der laudatio von werner sobek bleibt nichts hinzuzufügen ... außer "ruhe wohl" ...

3

Lukas Klenk | 09.09.2021 19:01 Uhr

Danke Herr Sobek

Danke für diese sehr persönlichen und bewegenden Zeilen.
Es freut mich, dass Sie als einer seiner Schüler diesen Nachruf geschrieben und uns einen kleinen Einblick hinter das Werk und in die Persönlichkeit dieses außergewöhnlichen Menschen gegeben haben.

Zurecht ein Meister seiner Zunft und darüber hinaus.

2

STPH | 09.09.2021 18:30 Uhr

...

ich hatte das ungewöhnliche Erlebnis ihn per Zug kommend sich unauffällig zwischen die Wettbewerbsjungspunde bei Striffler zu setzen und mit ein paar leisen Strichen ein Sheddach aus leichten Flugzeugtragflächen anzudeuten, nur eine Idee und sich dann wieder unbemerkt zurückzuziehen, als wir Grobiane jeder in eine andere Richtung zwischen Behnisch und skulpturalem Striffler das ganze auskämpften. Nur so wie die Egoismen verteilt waren.

Seine Tragwerke waren nicht viel mehr als Gedanken.

1

alexander | 09.09.2021 16:43 Uhr

dankbarkeit

als architekt habe ich immer die sehr hohe gestalterische qualität seiner konstruktionen bewundert.

ein tolles lebenswerk...danke jörg schlaich!

 
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