Von Sebastian Redecke
Der Architekturhistoriker, Kritiker und Ausstellungskurator Jean-Louis Cohen bleibt als liebenswürdiger Mensch in Erinnerung. Er konnte begeistern mit unglaublichem Wissen und analytischem Blick. Zudem besaß er die wunderbare Fähigkeit, sich weltweit mit Menschen auszutauschen und mit ihnen zusammen zu arbeiten. Isabelle Regnier von Le Monde beschrieb ihn nach seinem Tod als „Encyclopédie vivante“.
Nachdem Jean-Louis Cohen 1973 im Alter von 24 Jahren sein Architekturstudium abgeschlossen hatte, wandte er sich der Forschung zu. Schon die 1979 von ihm mitgeplante Ausstellung „Paris-Moscou 1900-1930“ im Centre Pompidou zeigte sein besonderes Interesse für die Architektur in der Sowjetunion. In der Folge erschien 1984 sein Buch „Le Corbusier et la mystique de l’URSS, théories et projets pour Moscou 1928-1936“. Ab 1982 studierte er an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales. Diese Hinwendung zu den Sozial- und Kulturwissenschaften prägte sein Werk. Ende der 1980er Jahre entwickelte er mit Bruno Fortier das Konzept der ständigen Ausstellung „Paris, la ville et ses projects“ im Pavillon de l’Arsenal, dem damals international viel beachteten Architekturforum der Stadt Paris.
Die Liste seiner Bücher ist lang. Ein Schwerpunkt lag auf Le Corbusier und seinen weitreichenden Einflüssen, besonders in Europa. 2008 erschien „Le Corbusier, le grand“. 2014 kuratierte Cohen die Ausstellung „Le Corbusier. An Atlas of Modern Landscapes“ im MoMA New York. Er schrieb auch Bücher zu Mies van der Rohe, Oscar Niemeyer, Auguste Perret und zuletzt zu Frank Gehry. Viel Beachtung fanden die Publikationen mit politischen und sozialen Zusammenhängen wie 2003 „Casablanca: Colonial Myths & Architectural Ventures“ mit der im Mai verstorbenen Architektursoziologin Monique Eleb. „Architecture in Uniform“ zum Planen und Bauen im Zweiten Weltkrieg erschien 2011 zu einer Ausstellung im CCA in Montreal, die später auch in Paris, Rotterdam und Rom gezeigt wurde. 2020 folgte, ebenfalls mit Ausstellung, das Buch „Building a new New World: Amerikanizm in Russian Architecture“.
Cohen war ein begeisternder Hochschullehrer. Er lehrte Architekturgeschichte am Institute of Fine Arts der New York University, an der Universität Paris VIII und seit 2013 am Collège de France. Er war Gast in Princeton, Delft, Sydney und vielen anderen Universitäten. Neben der Lehre und seinen Forschungen setzte er sich immer wieder für den Schutz von Gebäuden ein, zuletzt für die Cité-jardin de la Butte-Rouge in Châtenay-Malabry bei Paris von 1931-40 und schon vor vielen Jahren für das Collège Karl Marx in Villejuif bei Paris, das 1933 nach Plänen von André Lurçat entstand. Hierzu erschien „André Lurçat 1894-1970. Autocritique d’un moderne“.
Ein wichtiger Moment in Cohens beruflichem Leben war 1997, als ihn das französische Kulturministerium mit der Konzeption der Cité de l’Architecture et du Patrimoine in Paris beauftragte. Die Erwartungen an das Architekturmuseum im riesigen Palais de Chaillot waren groß. Nach sechs Jahren wurde ihm die Leitung des Projekts jedoch entzogen, 2007 eröffnete die Ausstellung mit deutlich geringerem internationalen Fokus. 2014, vier Kulturminister später, war Jean Louis-Cohen Kurator des Französischen Pavillons auf der Architekturbiennale Venedig.
Cohen sprach neben französisch, englisch, russisch und italienisch auch deutsch. Er war interessiert an der IBA‘87 in Berlin und den Planungen nach 1989. Er war Mitautor von Büchern zum deutsch-französischen Verhältnis, zum Beispiel 2019 zur Stadt Mainz in der Besatzungszone: „Ein Neues Mainz? Kontroversen um die Gestalt der Stadt nach 1945“. 2013 erschien das Katalogbuch zur Ausstellung „Interferenzen/Interférences Architektur Deutschland/Frankreich 1800-2000“, die im DAM und in Straßburg zu sehen war. Sie thematisierte die wechselseitige Beziehung und den Austausch über Grenzen hinweg mit neuer, verbindender Sichtweise.
Als Mitglied im Preisgericht zum Bau des Humboldt Forums in Berlin äußerte sich Cohen nach der Entscheidung deutlich leidenschaftslos: „Das Zögern der Architekturszene in Europa, was eine Beteiligung am Wettbewerb betraf, konnte niemanden überraschen, denn für imaginative Lösungen zum Thema Rekonstruktion war hier kein Raum. Man hatte von Anfang an alle Möglichkeiten dazu verbaut“ und „am Ende war selbst die Jury überrascht, dass sie aus der Sackgasse, in der sie sich befand, irgendwie herausgefunden hat“. Cohen war seit 2003 Mitglied der Sektion Baukunst in der Berliner Akademie der Künste. 2010 wurde ihm in Karlsruhe der Schelling-Architekturpreis für Architekturtheorie verliehen. Am 7. August ist Jean-Louis Cohen im Alter von 74 Jahren in seinem Haus auf dem Land in Chassiers, Ardèche gestorben.
Foto: Gitty Darugar
Zum Thema:
Zum 70. Geburtstag erschien der Beitrag „Moderne Architektur begreifen“.
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ixamotto | 15.08.2023 16:53 Uhr@arcseyler
die banlieue ist kein linkes projekt gewesen, sondern ein resultat des fordistisch-keynesianistischen ordnungsstaates.
interessant wäre es deshalb eher, die homologien und untershciede in der gebauten umwelt zweier auf wachstum, zentralisierung, produktivität, rationalisierung und top-down-planung setzenden gesellschaftsformationen zu untersuchen.