Von Annette Rudolph-Cleff
Günther Uhlig war immer unterwegs, ohne Titel (er war Prof. Dr.-Ing.) und ohne Visitenkarte, aber nie ohne ein paar druckfrische Bücher. Auf diese schielte man neugierig, denn sie spiegelten GUs — wie er selbst zeichnete – breites Interessen wider. Auf Nachfrage gab er kurze Kommentare oder begeisterte Statements, aus denen man schließen konnte, ob dieses Buch oder jenes Thema künftig den akademischen Diskurs oder gesellschaftspolitische Debatten prägen wird. Schließlich lebt die Stadt von der Neugier.
Günther Uhlig, geboren 1937 in Königsberg an der Eger, studierte Architektur, Städtebau und Sozialwissenschaften an der TH München, der TU Berlin und FU Berlin und arbeitete als freier Mitarbeiter in Architekturbüros in Paris und Berlin, unter anderem bei Georg Heinrichs. In den 1970er Jahren war er wissenschaftlicher Assistent im interdisziplinär zusammengesetzten Assistentenpool der RWTH Aachen am Lehrstuhl für Planungstheorie bei Gerhard Fehl, wo er zum Thema Kollektivmodell und Einküchenhaus promovierte.
Zurück in Berlin arbeitete Uhlig als Berater des Senators für Bau- und Wohnungswesen und übernahm danach die Leitung der Programmentwicklung der Internationalen Bauausstellung IBA 1984/87 in Berlin. Den Lehrstuhl für Wohnungsbau, Siedlungswesen und Entwerfen an der Universität (TH) Karlsruhe leitete er von 1984 bis 2003. Parallel dazu gründete er das Büro für Stadtforschung, Planung und Architektur in Karlsruhe. Bereits 1974 war er als Redaktionsmitglied zur Zeitschrift ARCH+ in Aachen gekommen. Bis 1984 fungierte er als aktiver Mitherausgeber.
Ein zentrales Thema bildete für ihn die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Kontext der Moderne und ihren inneren Widersprüchen. Er folgte gern Walter Benjamin und den frühen Befreiungsschlägen, doch er hinterfragte die Dialektik von kulturellem Anspruch und stadtfeindlichen Rationalisierungen der Nachkriegsmoderne. Uhlig war immer auf der Suche nach Weichenstellungen der Moderne und alternativen Wohnformen. In der Gewissheit, dass die Geschichte nicht linear zu beschreiben ist und Entwicklungslinien unterbrochen, abgerissen und nicht weiterverfolgt werden, arbeitete er zur Wohnungsreform im 19. und 20. Jahrhundert und suchte beispielsweise im Pariser Süden bei Candilis, in London in den Entwicklungen in Lillington und Islington oder in dänischen Beispielen des Siedlungsbaus nach alternativen Vorbildern und Referenzen.
Mit dem Ökonom Klaus Novy forschte er zu Genossenschaftsbewegung und Wiener Siedlerbewegung. Ihre gemeinsame Ausstellung „Siedlerbewegung im Roten Wien“ im Bücherbogen am Berliner Savignyplatz wurde von einem Themenheft der ARCH+ begleitet. 35 Jahre später präsentierte man die Ausstellung im Rahmen eines Reenactments im ARCH+ Studio 2016 mit Verena von Beckerath, Beatrix Novy und Günther Uhlig neu. Damit wurde nachdrücklich die Aktualität der Frage belegt, wie aus Eigeninitiative und Selbsthilfe ein Prozess gesellschaftlicher Veränderung initiiert werden kann.
Gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund Nikolaus Kuhnert war er auf der Suche nach Wegen aus dem spätfunktionalistischen Wohnungsbau und nach der Wiedergewinnung städtischer Qualitäten. Ihr maßgeblicher Beitrag zum Memorandum, das später von der IBA aufgegriffen wurde, zitiert Hannah Arendt zur verschwundenen Öffentlichkeit und beschreibt Öffentlichkeit als Raum, der jenseits seiner wirtschaftlichen und städtischen Funktionen den sozialen Rahmen für öffentliches Verhalten setzt. Dieses Verständnis von Öffentlichkeit hat Uhlig selbst gelebt: Er war diskussionsfreudig, aber immer ausgesprochen höflich, nie ins Private abschweifend, aber immer interessiert und neugierig auf andere Positionen und Lebensweisen.
Sein Lehrstuhl für Wohnungsbau, Siedlungswesen und Entwerfen an der Universität (TH) Karlsruhe war ein anderer Ort: mit offenen Türen für die Studierenden und mit vielen spannenden Gästen, mit gesellschaftspolitischen Themen und Diskussionen (allen voran mit Marc Fester), mit der wunderbaren Bibliothek, in der es immer einen Kaffee und die Zeit für ein Gespräch gab. Mit dem Mut zum pädagogischen Experiment war Uhlig als Hochschullehrer mindestens so neugierig wie seine Studierenden und sein Team. Er hörte aufmerksam zu und stellte genau die richtigen Fragen.
Seine Vorlesungen waren spannend, seine Kurzvorträge und Statements aus dem Stegreif unvergesslich. Uhlig war ein umsichtiger Denker und brillanter Analytiker. Mit großer Präzision und bildreicher Sprache konnte er Städte beschreiben, Entwicklungen und Zusammenhänge in der Stadtentwicklung und im Wohnungsbau erklären und neue Konzepte und Planungstheorien erschließen. Seine Überzeugung, dass es unterschiedliche Ebenen gleichzeitig und nebeneinander zu denken gilt, schien dabei immer aufzugehen. Und mit einem Augenzwinkern stellte er fest, dass wohl die Stadt weniger in der Krise sei als unsere Theorien.
Wer so voran denken und seine Gedanken fliegen lassen kann, ist schwer zu fassen. Auch wenn er mit schneller Feder seitenlange Texte in einer Nacht zu Papier bringen konnte, ohne auch nur ein einziges Wort korrigieren zu müssen, hat er leider nur wenige Vorträge schriftlich verfasst. Zwischen Buchdeckeln eingefangen wurde nur das, was als Beitrag oder Dokumentation beauftragt war.
Er hat viele wichtige Prozesse initiiert wie beispielsweise die dritte Regionalkonferenz und den internationalen Teamwettbewerb zum Südraum Leipzig, für den er namhafte Kolleg*innen aus aller Welt nach Deutschland holte, um die Diskussion um Zukunftsperspektiven für die Region zu starten. Auch hat er sein umfangreiches Wissen als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung IRS in Erkner eingebracht.
Das Fest, mit dem Uhlig und Markus Neppl gemeinsam die Übergabe des Lehrstuhls feierten, belegte einmal mehr, mit welcher Leichtigkeit er seine Wege beschrittt. Uhlig ging damals nicht in den Ruhestand, sondern als leitender Redakteur nach Mailand zu Domus, als Mentor in Graduiertenkollegs und als Lehrbeauftragter an verschiedene Universitäten. Die neue Generation von Studierenden hat dabei sicherlich nicht schlecht über die umfangreichen Literaturempfehlungen gestaunt. Als ehemalige Mitarbeiter*innen aus Karlsruher Zeit hat es uns nicht verwundert, dass kaum aus der Tür getreten, an der nächsten Ecke schon neue Themen und Aufgaben auf ihn warteten.
Dieser große Mann hat uns geprägt und verbunden. Er hat in unserem Leben Spuren hinterlassen. Günther Uhlig starb am 19. November in Köln. Es bleibt unsere große und tief empfundene Wertschätzung für Uhlig und unsere Dankbarkeit. Vielen Dank für alles!
Diesen Text haben wir mit freundlicher Genehmigung vom Online-Magazin Marlowes übernommen. Er erschien dort erstmalig am 6. Dezember 2021.