Von Thomas Steigenberger
Mit seinen frühen Einfamilienhäusern, der Leitz-Fabrik in Stuttgart und der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße hat Georg Heinrichs Architekturgeschichte geschrieben. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der letzte große Exponent der West-Berliner Nachkriegsmoderne bereits am 20. Dezember 2020 im Alter von 94 Jahren gestorben.
Der Sohn russischer Einwanderer wurde am 10. Juni 1926 in Berlin geboren. In Bruno Tauts Siedlung Onkel Toms Hütte verbrachte Heinrichs wenige glückliche Kindheitsjahre, bis die Familie aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Mutter seit 1933 zunehmend diskriminiert wurde. 1944 kam Heinrichs als Zwangsarbeiter nach Petershütte im Harz, konnte aber kurz vor Kriegsende fliehen. Sein älterer Bruder Sergej hingegen überlebte die Zwangsarbeit in einem Dessauer Arbeitslager nicht.
„Häuser sind für mich immer Skulpturen“, resümierte Heinrichs in einem 2005/06 entstandenen Filmportrait sein Verständnis von Architektur. Wie fast immer, wenn er sprachgewandt, voller Tiefsinn und Humor erzählte, saß er an seinem Lieblingsplatz in der Dahlemer Villa Bruno Pauls, im Lounge-Chair von Charles Eames, umgeben von bedeutenden Kunstwerken, die ebenso viel über ihn aussagten wie die eigene Bauten und Entwürfe. Neben seinem „Liebling“ Oskar Schlemmer, von dem er zwei Skulpturen besaß, entdeckte er früh den Berliner Bildhauer Utz Kampmann, dessen „coloured sculptures“ er gleichermaßen sammelte wie die Arbeiten des Briten Richard Smith. Heinrichs schätzte das Skulptural-Architektonische an diesen Werken, die seinen Bauten wesensverwandt sind: Starke Farben und ebenso einfache wie einprägsame geometrische Formen.
Bereits die beiden um 1960 entstandenen Häuser Karsch und Müllerburg waren ein Manifest gegen die Ästhetik der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrer Vorliebe für membranartige Fassaden, Messing und Chrom, Pastellfarben, Flugdächer und Tütenlampen. Heinrichs wollte dagegen das Neue Bauen der 1920er Jahre wiederbeleben. Erich Mendelsohns dynamisch-skulpturaler Funktionalismus, Le Corbusier und das brutalistische Frühwerk von James Stirling waren wichtige Bezugspunkte. Ebenso Alvar Aalto, in dessen Berliner Pop-up-Büro er 1956 unter der Leitung der Schweizers Karl Fleig an der Detailplanung des Wohnhauses im Hansaviertel mitwirkte. Aus all diesen Einflüssen entwickelte Heinrichs seine unverkennbare Architektursprache: Dynamik und Skulpturalität, die mit einer gewissen Schwere daherkommen, zeichnen seine immer horizontal gegliederten und bis ins kleinste Detail durchgestalteten Projekte aus.
Bekannt wurde Heinrichs vor allem als Generalplaner der Berliner Großwohnsiedlung Märkisches Viertel (1962–1972, zusammen mit Werner Düttmann und Hans Christian Müller) und mit Bauten wie der Leitz-Fabrik in Stuttgart oder dem 2011 abgerissenen Evangelischen Konsistorium im Berliner Hansaviertel. Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße (1971–82) in Berlin-Wilmersdorf darf wohl als sein bedeutendstes Werk gelten. Etwa 4.000 Menschen leben in dem über 600 Meter langen und 46 Meter hohen Wohngiganten, dessen abgestufte Terrassen sich erstaunlich gut in die Umgebung einpassen. Während ähnliche Projekte von Paul Rudolph oder Kenzo Tange an den Kosten scheiterten, wurde die „Schlange“ tatsächlich gebaut. Sie zählte zu den seinerzeit hoch umstrittenen Prestigeprojekten der ummauerten und wirtschaftlich von Finanztransfers aus der Bundesrepublik abhängigen Zweimillionenstadt West-Berlin, in der die durch Subventionen und Steuerabschreibungen gestützte Bauindustrie zum wichtigsten Arbeitgeber avanciert war.
Es grenzt an ein Wunder, dass dieses architektonische Experiment nicht nur realisiert werden konnte, sondern auch weitgehend geglückt ist. Verkehrstechnisch und bauphysikalisch war die Megastruktur allerdings schon lange vor ihrer Fertigstellung ein Anachronismus. Nachdem bereits in den 1970er Jahren der zerstörerische Ausbau der hypertrophen Stadtautobahn gestoppt worden war, überspannt die „Schlange“ letztlich nur einen weitgehend funktionslosen Zubringer. Als Großbau mit exzellenten Grundrissen und hohem Wohnwert findet das seit 2017 denkmalgeschützte Gebäude heute internationale Anerkennung.
Ab Mitte der 1980er Jahre wurde es ruhig um Heinrichs, der immer weniger Aufträge erhielt und zeitlebens die Postmoderne und den Neo-Traditionalismus der Nachwendejahre vehement ablehnte. Sich selbst bezeichnete er gerne als „Endmoräne des bürgerlichen Zeitalters“ – als letzten Ausläufer einer inzwischen untergegangenen und zunehmend missverstandenen Baukultur, die in seinen Augen mit der Ära von Willy Brandt und Helmut Schmidt schon 1982 zu Ende gegangen war. Die Anfang dieses Jahrhunderts beginnende Wiederentdeckung seiner Arbeit konnte Heinrichs noch miterleben. Eine umfassende Würdigung des Oeuvres steht allerdings noch aus.
Zum Thema:
Der Autor hat 2006 zusammen mit Alexander Hoff eine kleine Kabinettausstellung anlässlich des 80. Geburtstages von Georg Heinrichs in der Berlinischen Galerie kuratiert. Im gleichen Jahr erschien außerdem in Zusammenarbeit mit Hoff und Jochen Nuss ein Filmportrait über Heinrichs.
Ein Interview mit Georg Heinrichs erschien 2015 in BAUNETZWOCHE#408 „Radikal Modern“.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Alexander Walter | 13.01.2021 23:26 UhrDanke
Noch weit vor meinem Studium durfte ich in Heinrichs' Büro als Schüler praktizieren. Seine Persönlichkeit, die Moderne und das perfekte Handwerk hat meine Arbeit geprägt. Vielen Dank!