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11.01.2021

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Endmoräne des bürgerlichen Zeitalters

Zum Tod von Georg Heinrichs


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Von Thomas Steigenberger

Mit seinen frühen Einfamilienhäusern, der Leitz-Fabrik in Stuttgart und der Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße hat Georg Heinrichs Architekturgeschichte geschrieben. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist der letzte große Exponent der West-Berliner Nachkriegsmoderne bereits am 20. Dezember 2020 im Alter von 94 Jahren gestorben.

Der Sohn russischer Einwanderer wurde am 10. Juni 1926 in Berlin geboren. In Bruno Tauts Siedlung Onkel Toms Hütte verbrachte Heinrichs wenige glückliche Kindheitsjahre, bis die Familie aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Mutter seit 1933 zunehmend diskriminiert wurde. 1944 kam Heinrichs als Zwangsarbeiter nach Petershütte im Harz, konnte aber kurz vor Kriegsende fliehen. Sein älterer Bruder Sergej hingegen überlebte die Zwangsarbeit in einem Dessauer Arbeitslager nicht.

„Häuser sind für mich immer Skulpturen“, resümierte Heinrichs in einem 2005/06 entstandenen Filmportrait sein Verständnis von Architektur. Wie fast immer, wenn er sprachgewandt, voller Tiefsinn und Humor erzählte, saß er an seinem Lieblingsplatz in der Dahlemer Villa Bruno Pauls, im Lounge-Chair von Charles Eames, umgeben von bedeutenden Kunstwerken, die ebenso viel über ihn aussagten wie die eigene Bauten und Entwürfe. Neben seinem „Liebling“ Oskar Schlemmer, von dem er zwei Skulpturen besaß, entdeckte er früh den Berliner Bildhauer Utz Kampmann, dessen „coloured sculptures“ er gleichermaßen sammelte wie die Arbeiten des Briten Richard Smith. Heinrichs schätzte das Skulptural-Architektonische an diesen Werken, die seinen Bauten wesensverwandt sind: Starke Farben und ebenso einfache wie einprägsame geometrische Formen.

Bereits die beiden um 1960 entstandenen Häuser Karsch und Müllerburg waren ein Manifest gegen die Ästhetik der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrer Vorliebe für membranartige Fassaden, Messing und Chrom, Pastellfarben, Flugdächer und Tütenlampen. Heinrichs wollte dagegen das Neue Bauen der 1920er Jahre wiederbeleben. Erich Mendelsohns dynamisch-skulpturaler Funktionalismus, Le Corbusier und das brutalistische Frühwerk von James Stirling waren wichtige Bezugspunkte. Ebenso Alvar Aalto, in dessen Berliner Pop-up-Büro er 1956 unter der Leitung der Schweizers Karl Fleig an der Detailplanung des Wohnhauses im Hansaviertel mitwirkte. Aus all diesen Einflüssen entwickelte Heinrichs seine unverkennbare Architektursprache: Dynamik und Skulpturalität, die mit einer gewissen Schwere daherkommen, zeichnen seine immer horizontal gegliederten und bis ins kleinste Detail durchgestalteten Projekte aus.

Bekannt wurde Heinrichs vor allem als Generalplaner der Berliner Großwohnsiedlung Märkisches Viertel (1962–1972, zusammen mit Werner Düttmann und Hans Christian Müller) und mit Bauten wie der Leitz-Fabrik in Stuttgart oder dem 2011 abgerissenen Evangelischen Konsistorium im Berliner Hansaviertel. Die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße (1971–82) in Berlin-Wilmersdorf darf wohl als sein bedeutendstes Werk gelten. Etwa 4.000 Menschen leben in dem über 600 Meter langen und 46 Meter hohen Wohngiganten, dessen abgestufte Terrassen sich erstaunlich gut in die Umgebung einpassen. Während ähnliche Projekte von Paul Rudolph oder Kenzo Tange an den Kosten scheiterten, wurde die „Schlange“ tatsächlich gebaut. Sie zählte zu den seinerzeit hoch umstrittenen Prestigeprojekten der ummauerten und wirtschaftlich von Finanztransfers aus der Bundesrepublik abhängigen Zweimillionenstadt West-Berlin, in der die durch Subventionen und Steuerabschreibungen gestützte Bauindustrie zum wichtigsten Arbeitgeber avanciert war.

Es grenzt an ein Wunder, dass dieses architektonische Experiment nicht nur realisiert werden konnte, sondern auch weitgehend geglückt ist. Verkehrstechnisch und bauphysikalisch war die Megastruktur allerdings schon lange vor ihrer Fertigstellung ein Anachronismus. Nachdem bereits in den 1970er Jahren der zerstörerische Ausbau der hypertrophen Stadtautobahn gestoppt worden war, überspannt die „Schlange“ letztlich nur einen weitgehend funktionslosen Zubringer. Als Großbau mit exzellenten Grundrissen und hohem Wohnwert findet das seit 2017 denkmalgeschützte Gebäude heute internationale Anerkennung.

Ab Mitte der 1980er Jahre wurde es ruhig um Heinrichs, der immer weniger Aufträge erhielt und zeitlebens die Postmoderne und den Neo-Traditionalismus der Nachwendejahre vehement ablehnte. Sich selbst bezeichnete er gerne als „Endmoräne des bürgerlichen Zeitalters“ – als letzten Ausläufer einer inzwischen untergegangenen und zunehmend missverstandenen Baukultur, die in seinen Augen mit der Ära von Willy Brandt und Helmut Schmidt schon 1982 zu Ende gegangen war. Die Anfang dieses Jahrhunderts beginnende Wiederentdeckung seiner Arbeit konnte Heinrichs noch miterleben. Eine umfassende Würdigung des Oeuvres steht allerdings noch aus.


Zum Thema:

Der Autor hat 2006 zusammen mit Alexander Hoff eine kleine Kabinettausstellung anlässlich des 80. Geburtstages von Georg Heinrichs in der Berlinischen Galerie kuratiert. Im gleichen Jahr erschien außerdem in Zusammenarbeit mit Hoff und Jochen Nuss ein Filmportrait über Heinrichs.

Ein Interview mit Georg Heinrichs erschien 2015 in BAUNETZWOCHE#408 „Radikal Modern“.


Kommentare
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.

4

Alexander Walter | 13.01.2021 23:26 Uhr

Danke

Noch weit vor meinem Studium durfte ich in Heinrichs' Büro als Schüler praktizieren. Seine Persönlichkeit, die Moderne und das perfekte Handwerk hat meine Arbeit geprägt. Vielen Dank!

3

Jörg Pampe | 12.01.2021 18:21 Uhr

verräumlichtes Blockraster

im Wohnungsbau wird durch den Schlangenbader Balken die sensible Weiterentwicklung des Berliner Blockrasters von Georg Heinrichs vergessen. Er hat das Hobrechtsche Blockraster veräumlicht (!) Das Blockraster bildet ja keine Räume, nur da wo ein Block unbebaut ein Platz ist, oder wo Fluß oder Bahntrasse oder die Magistralen das Raster schneiden haben sich Stadträume gebildet. Georg Heinrichs hat die Blockränder zum Schwingen gebracht und damit im Blockraster Räume geschaffen. Diese Stadträume sind ein Mehrwert für das Wohnen geworden, ein Zugewinn. Die Beispiele stehen in > Krummestr., > Wolliner Str. am Vinetaplatz, > Kleiststr., > Uhlandstr., >Bismarck-Zillestr. - Der oft zitierte Vinetablock von Kleihues war in diesem Sinne keine Weiterentwicklung. Georg Heinrichs Denken in Räumen liegt auch dem städtebaulichen Plan des Märkischen Viertels zu Grunde. Das zeichnet ihn als großen Architekten der Moderne aus.
Berlin hat in den 90ern dieses Potential verkannt und den Blockrand im Klein-Klein nachgezeichnet, bis in den 00er Jahren die Investoren mit der Brechstange Räume in die Blöcke getrieben haben. Wie geht es weiter?

2

Wolfgang Meier-Kühn | 12.01.2021 16:32 Uhr

Das Jugendgästehaus in der Kluckstrasse

Nicht zu vergessen!

1

Hinrich Schoppe | 11.01.2021 16:29 Uhr

Bürgerlich

Ein erfülltes Leben ist zu seinem Ende gelangt.
Vielen Dank diesem Herren, in all seiner Sperrigkeit, die durchaus der jeweiligen Zeitströmung entsprach.
Mit dem doch so zu nennenden Glück, in dieser Zeit aktiv gewesen sein zu dürfen.
Spannend seine Einschätzung von "Bürgerlichkeit", die landläufig doch eher mit einer gewissen "Klassizität" verbunden wurde und wird, beginnend vielleicht bei Wolf Jobst Siedler und längst nicht aufhörend bei der Enkel-Generation der OMU-Schüler, die vor Allem in Berlin ihr Wesen treiben. Und das nicht zum Schlechtesten, denn Qualität neben den ausgetretenen schinkelesken Pfaden zu erzielen, wenn auch durchaus sperrig, wie gesagt ist nicht jedem gegeben. Herr Heinrichs hat dies m.E. durchaus vermocht. Möge sein Werk dem unbescholtenen und zweifelndem Betrachter nahe gebracht werden. Vielen Dank.

 
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Georg Heinrichs im Jahr 2007

Georg Heinrichs im Jahr 2007

Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin, in Zusammenarbeit mit Gerhard und Klaus Krebs, 1971–82

Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße in Berlin, in Zusammenarbeit mit Gerhard und Klaus Krebs, 1971–82

Haus Karsch in Berlin, 1959/60

Haus Karsch in Berlin, 1959/60

Leitz-Fabrik in Stuttgart-Feuerbach, 1962–70

Leitz-Fabrik in Stuttgart-Feuerbach, 1962–70

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