Von Gregor Harbusch
Die Schweizer Architektur hat einen ihrer wichtigsten Protagonisten des Bauens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert verloren: Am 6. Mai, kurz vor seinem 99. Geburtstag, ist Ernst Gisel in seiner Heimatstadt Zürich gestorben. Geboren wurde Gisel am 8. Juni 1922 im Zürcher Vorort Adliswil, sein Vater war Sattlermeister und bei den städtischen Trambetrieben angestellt. 1938–40 absolvierte der junge Gisel eine Bauzeichnerlehre bei Hans Vogelsanger, anschließend studierte er zwei Jahre an der Kunstgewerbeschule Zürich. Eigentlich wollte er damals Maler werden, doch seine Lehrer Willy Guhl und vor allem Wilhelm Kienzle, die an der Schule Innenausbau unterrichteten, überzeugten ihn, dass er Architekt werden solle. Zwei Jahre arbeitete er bei Alfred Roth, ab 1947 führte er sein eigenes Büro.
Die Konstellationen dieser frühen Jahre stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen Gisels vielfältiges Oeuvre der folgenden Jahrzehnte verortet werden kann. Das handwerkliche Milieu der Familie prägte seinen Anspruch an Ausführung und Materialien. Die Liebe zur Kunst und die enge Vernetzung in Künstler*innenkreise spiegelt sich in seinen vielen Atelierhäusern, vor allem aber im dezidierten künstlerischen Anspruch an die Architektur. Vogelsanger und vor allem Roth stehen für das Bekenntnis zur internationalen Moderne.
Doch von vornherein wandte sich Gisel von jeglicher eingleisiger oder dogmatischer Interpretation der Moderne ab. Seine ersten Projekte verorten sich souverän in den progressiven regionalistischen Tendenzen der Nachkriegsjahre. Immer wieder wird etwa der fulminante Auftakt seiner Karriere, das Parktheater Grenchen im Kanton Solothurn, mit Alvar Aalto und dessen Rathaus in Säynätsalo verglichen. Die eigentliche Pointe ist freilich, dass der damals erst 27 Jahre junge Gisel diesen Bau bei der Arbeit am Wettbewerb 1949 nicht gekannt haben kann, sondern in der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten vor Ort hellsichtig zu ganz ähnlichen Formen fand wie der skandinavische Großmeister. Später folgten viel expressiver béton brut, rationalistische Strenge und zuletzt auch gewisse postmoderne Einflüsse.
Die große Monographie über ihn trägt den schlichten Titel Ernst Gisel Architekt. Mehr ist vielleicht nicht zu sagen, denn damit ist der Kern dessen getroffen, um was es Gisel zeitlebens ging – um eine situativ angemessene Baukunst, um die Sinnlichkeit des Materials, um das ständige Suchen nach architektonischen Formen jenseits einer stilistisch eng gestrickten Handschrift. Gisel hat weder in nennenswerter Weise gelehrt noch geschrieben. Umso wichtiger ist es, hier ein Diktum von ihm zu zitieren: „Jedes Haus ist eine Plastik!“
Der Ort seines Architekturschaffens war seit 1973 das „Blaue Atelier“ in der Nähe des Zürcher Hegibachplatzes. Wer etwas von Gisel lernen wollte, war einige Jahre dort. Jacques Herzog, Arno Lederer, Patrick Gmür und Jean-Pierre Dürig sind nur einige der vielen „Knechte“, die dort arbeiteten. So nannte nicht nur Gisel, der das Büro als in sich ruhender und lakonischer Patriarch alter Schule führte, seine Mitarbeiter scherzhaft – viele bezeichneten sich Jahre später noch so.
Bis Mitte der 1990er Jahre waren Gisel und seine „Knechte“ noch aktiv, 1999 schenkte er das „Blaue Atelier“ schließlich der ETH Zürich. Heute liegt hier nicht nur sein umfangreicher Nachlass, der zum Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur gta gehört. Hier hat auch Gion Caminada seit vielen Jahren sein Entwurfsstudio eingerichtet, weit entfernt vom Trubel des Campus Hönggerberg, wo das Architekturdepartement der ETH angesiedelt ist. Damit ging Gisels wichtigster Wunsch für das Gebäude in Erfüllung: Dass im „Blauen Atelier“ weiter Architektur gemacht wird!
Fotos: Fritz Maurer, Georg Gisel, Harry Moor
Zum Thema:
Mehr zu Gisel findet sich in der schwergewichtigen Monographie mit über 1.000 Abbildungen, die mittlerweile in der dritten Auflage beim gta Verlag der ETH Zürich erschienen ist und unter anderem Beiträge von Luigi Snozzi sowie Jacques Herzog und Pierre de Meuron umfasst:
Ernst Gisel Architekt
Bruno Maurer und Werner Oechslin mit Almut Grunewald (Hg.)
456 Seiten
gta Verlag, Zürich 2018 (3. Auflage nach der 2., erweiterten Auflage 2010)
ISBN 978-3-85676-254-4
115 Euro
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STPH | 17.05.2021 18:16 Uhr....
Auch ein schönes Ensemble im Märkischen Viertel. Die oft vertikal strukturierten Fassaden, auch vieles zipflige scheint zu hängen wie bei Aalto. Die Kunst ganz das körperliche aufzugeben, das Schwere, antistatisch, hängend von oben runter als Teil des Raums. Und das bei der eigenen körperlichen Massivität und Bodenständigkeit. Kein Leichtfuß, Papiertiger. Seine Eigenartigkeit hält sich durch die vielen Moden dieser Zeit. Hoffnung von uns Studenten auch auf ein selbstgestaltetes Leben.