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02.12.2021
Großer Stadt- und Raumplaner
Zum Tod von Carl Fingerhuth
Am 15. November verstarb Carl Fingerhuth. Der 1936 in Zürich geborene Architekt war von 1979–1992 Kantonsbaumeister in Basel-Stadt. Seitdem hat er als Kritiker, Publizist und Mitglied in zahlreichen Gestaltungsbeiräten und Preisgerichten Architektur und Städtebau nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland mitgeprägt. Im BauNetz-Archiv finden sich über 40 Beiträge zu Wettbewerben, an deren Jurys Carl Fingerhuth beteiligt war, darunter Entscheidungen zum Karlsplatz in Stuttgart, zum Überseequartier in der HafenCity, zur Ruhr-Uni Bochum oder zum Berliner Hauptbahnhofsareal. Anstelle eines Nachrufes lassen wir Carl Fingerhuth noch einmal selbst zu Wort kommen. Den Text haben wir mit freundlicher Genehmigung dem 2019 bei Edition Hochparterre erschienenen Band „Im Rückspiegel. Gestalterinnen und Gestalter erzählen ihr Leben“ entnommen.
Gesprächsaufzeichnung vom Juni 2018: Rahel Marti
Häuser sind die Buchstaben einer Stadt. Die Stadtplanung ist ihre Grammatik. Damit aus Buchstaben und Grammatik Literatur wird, braucht es den Städtebau. Diese Erkenntnis nahm ich mit aus Basel nach 14 Jahren als Kantonsbaumeister. Städtebau heißt: Zuerst kommt der Stadtraum. Der öffentliche Raum. Dann erst die Architektur. Der Städtebau verknüpft die Raumplanung mit der Architektur und damit die öffentlichen mit den privaten Interessen. In Deutschland ist diese Erkenntnis grundlegend. Die Planung eines Areals beginnt mit einem Wettbewerb unter Städtebauerinnen. Davon gibt es in der Schweiz wenige, und wir bilden wenige aus. An der ETH Zürich war Kees Christiaanse der einzige Professor für Städtebau, nun ist er emeritiert. Die Schweiz hat eine gespaltene urbane Kultur. Sie liegt am Schnittpunkt zweier großer Kulturräume, des römisch-griechischen und des germanisch-keltischen. Durch den unterschiedlichen Bezug zur Natur in diesen Kulturen entstehen Konflikte. Professoren des ETHStudios Basel kritisierten, es fehle uns an einer Verstädterung der Seelen, und bedauerten, die Schweizer hätten Bäume lieber als Mauern. Ich sehe das anders. Ich will keinen Grün-Grau-Kampf. Ich möchte Natur und Stadt verbinden. Wir müssen uns bewusst sein, dass beides von Bedeutung für uns Menschen ist. Die Natur ist unsere Partnerin, nicht Untertanin – auch in der Stadt.
Weil ich Anfang der Sechzigerjahre an der ETH Zürich Architektur studierte, war ich architektonisch ein Kind der Moderne. Ich entfloh ihr nach Ägypten und arbeitete als Archäologe. Danach klopfte ich bei Walter Custer an, einem Freigeist unter den Dozenten an der ETH. Er schickte mich ins Wallis, dort bräuchten sie wegen des Raumplanungsgesetzes nun ein Raumplanungsamt und Bauzonen. Der Gemeindepräsident von Naters sagte mir, wenn das Wasser über hundert Steine fließe, sei es wieder sauber. Bauzonen seien dafür nicht nötig. Doch dann stand Zermatt wegen eines Typhus-Falls während Wochen unter Quarantäne. Da merkten auch die Walliser, dass Ortsplanung nützt.
Ich lernte beim Machen und gründete ein Büro für Raumplanung in Zürich, von denen es damals erst eine Handvoll gab. Mit 35 ging ich nach Nigeria, um während vier Jahren die Erweiterung von Owerri, Hauptstadt einer neuen Provinz, zu entwerfen und zu bauen. Dann folgte meine Zeit in Basel. Nach all den Lehrjahren war ich nun verantwortlich für eine Stadt. Gekündigt habe ich mit 56, als mein politischer Chef wechselte. Seit 1992 bin ich als Berater und Professor für Städtebau unterwegs in Europa und in Amerika. Zusammen mit Matthias Wehrlin und Karin von Witterstein beriet ich zum Beispiel die Stadtplaner in Zürichs chinesischer Partnerstadt Kunming. Dort gab es kompetente Stadtplaner, doch sie verwalteten, statt zu gestalten. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit gelang es uns zum ersten Mal, eine chinesische Altstadt flächendeckend zu schützen.
Die Moderne sah die Stadt als „machine à habiter“ und reduzierte das Bewusstsein auf das Rationale. Das Emotionale, das Sinnliche, das Spirituelle wurden dabei ausgemerzt. Heute geißelt uns die Durchökonomisierung. Die Roche-Türme in Basel, der Ausbau des Zürcher Hochschulgebiets oder die geplanten Hochhäuser beim Hardturm-Stadion gründen auf optimierten funktionalen und ökonomischen Prozessen. Sie machen die Stadt arm, aggressiv und banal. Der Mensch ist aber auch ein spirituelles Wesen. Sinnvoller und schöner werden unsere Städte erst, wenn wir unser Bewusstsein und unseren Städtebau wieder darum erweitern.
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