Von Hubertus Adam
Noch vor Abschluss seines Studiums an der ETH Zürich kann der 1936 in Biasca nördlich von Bellinzona geborene Aurelio Galfetti sein Erstlingswerk beginnen. Eigentlich hatte sich der Auftraggeber, ein Freund aus seinem Heimatort, einen Bungalow mit Satteldach gewünscht. Doch die Casa Rotalinti (1960/61) an einem Hang oberhalb von Bellinzona ist eine streng orthogonale Sichtbetonbox mit eingeschnittenen Terrassen und Außenräumen, inspiriert von Le Corbusier, für dessen Formenwelt ihn Paul Waltenspühl begeistert, seinerzeit Professor an der ETH Zürich.
Das Gebäude bewahrt seine architektonische Autonomie und nimmt doch Bezug auf zur Landschaft. Territorium, Ort, Landschaft – das sind Begriffe, die eine ganze junge Architekt*innengeneration aus dem Tessin zu dieser Zeit für sich entdeckt. Abgrenzen wollen sie sich, vom Bauwirtschaftsfunktionalismus der Spätmoderne ebenso wie von Tessiner Heimattümelei. Und die Casa Rotalinti gilt dafür als Pionierwerk. Außerhalb ihres Heimatkantons bekannt werden diese jungen Tessiner*innen dann durch den Kollektiventwurf für die EPF Lausanne (1970) und die Zürcher Ausstellung Tendenzen (1975) .
Aurelio Galfetti ist einer der Protagonisten, er arbeitet in wechselnden Konstellationen: mit Rino Tami an den Hochbauten der Autobahn, besonders intensiv aber mit Flora Ruchat und Ivo Trümpy. Wichtige Werke des Trios sind der terrassierte Schulbau von Riva San Vitale (1962-68), der Kindergarten von Viganello mit seinen Tonnendächern (1968-70), vor allem aber das Bagno Pubblico von Bellinzona: Ein 300 Meter langer aufgeständerter Weg bildet das Rückgrat dieser Anlage, das die Stadt mit dem Uferdamm des Flusses Ticino verbindet. Diese Passerelle, unter der sich die Garderoben befinden, fungiert als ordnendes Element – und nimmt Bezug zu den historischen Sperrmauern in der Magadinoebene.
Solch eine geometrisch-strukturelle Rigidität von Grundriss, Gesamtform und Fassaden führt Galfetti in der Scuola Media von Losone (1973-75, gemeinsam mit Livio Vacchini) fort, wo vier winkelförmige Bauteile innerhalb der wuchernden Siedlungslandschaft einen eigenen Ort schaffen und einen gemeinsamen Hof umschließen. Die Stahlskelettstruktur ist zum Hof hin aufgelöst und durchbrochen, auch die kräftigen Farben wirken der Strenge und Hermetik entgegen.
Galfettis bekanntestes Werk ist der Umbau des Castello Grande in Bellinzona (1981-91). Er begann daran zu arbeiteten, nachdem ein an den Strategien Carlo Scarpas angelehntes Projekt von Bruno Reichlin und Fabio Reinhart gescheitert war. Galfettis Eingriff ist radikal: Der Architekt führte die einstige Sforza-Festung auf ihr materielles Substrat aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit zurück und eliminierte sämtliche Umbauten und Erweiterungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Vegetation auf dem Hügel wurde fast komplett entfernt, die historischen Volumina avancierten zu abstrakten Skulpturen, ergänzt durch gezielt gesetzte Betonoberflächen. Stadt und Festung rücken durch die Materialität von Fels, Stein und Beton näher zusammen, zur Festung gelangt man über einen in den Berg geschnittenen Schlitz, einen unterirdischen Kuppelsaal und den mit aller Kraft inszenierten Aufzug, der hinauf ins Licht und auf das Felsplateau führt.
Aurelio Galfetti ist ein reger, umfangreich tätiger Architekt. Er ist beratend am Bau der Nordeuropäischen Eisenbahn-Alpen-Transversale (NEAT) beteiligt, er baut sich ein Ferienhaus auf Paros, wo auch weitere Bauten entstehen, er realisiert Projekte in Padua, darunter ein Hochhaus. Gemeinsam mit Iachen Könz entwirft er den Campusplan der Università della Svizzera Italiana in Lugano und zeichnet verantwortlich für das Auditorium. Gemeinsam mit Mario Botta ist er treibende Kraft für die Gründung der Accademia dell’Architettura in Mendrisio; 1996 wird er, der zuvor eher sporadisch in Lausanne oder Paris gelehrt hat, für sechs Jahre ihr Direktor.
Am 5. Dezember ist Aurelio Galfetti im Alter von 85 Jahren in Bellinzona gestorben.