- Weitere Angebote:
- Filme BauNetz TV
- Produktsuche
- Videoreihe ARCHlab (Porträts)
24.01.2023
Nachruf auf einen Undogmatiker
Zum Tod von Arno Lederer
Von Stephan Trüby
Die deutsche Architekturszene, schrieb der Architekt Arno Lederer einmal im Jahr 2010, sei „ein Zweispartentheater – hier die Verehrer der europäischen Stadt, dort die Vertreter der freien Form; dazwischen eine ideologische Demarkationslinie. Warum eigentlich?“ Lederer genoss es, die Erwartungen dieser und weiterer Camps zu bedienen, sie gleichzeitig zu unterlaufen – und dabei auch noch Baukunst-Funken zu versprühen.
Dies muss vor dem Hintergrund seines Architekturstudiums verstanden werden, das der 1947 geborene Stuttgarter an der Universität seiner Heimatstadt 1976 abschloss. An seine Studienjahre erinnerte er sich in dem Buch Vergessene Schulen (2017) mit folgenden Worten: „In Stuttgart waren wir eine Sondergruppe: Wir wollten Architektur machen! Und weil Architektur an der TH Stuttgart nicht mehr gelehrt wurde, gab es eine kleine Gruppe, die mit zwei oder drei Autos nach Karlsruhe gefahren ist, um Egon Eiermann zu hören.“ Versuche, wissenschaftliche Verfahren ins Architekturstudium zu bringen, waren ihm ein Graus: „In Stuttgart gab es einmal ein Seminar, da ging es um die Frage, welche Gegenstände oder Räume Aufmerksamkeit erregen. Einer hat nachgemessen, wie sich die Iris im Auge bewegt, wenn ein schöner Gegenstand auf ihn zukommt und wie der Ziliarmuskel aktiviert wird, der das Auge besonders auf diesen Punkt aufmerksam macht. […] Uns Architekturinteressierte hat diese Zeit zum Teil in Rage gebracht.“
Trost fand Lederer bei der Architekturgeschichte, auch der modernen: „Professor Joedicke haben wir in Stuttgart so erlebt, dass er ab und zu Vorlesungen hielt über moderne Architektur. Die waren relativ gut besucht, denn da hat jemand über Architektur gesprochen. Das war zu dieser Zeit wie Pornografie! Man durfte da eigentlich nicht hin. Er hat über Frank Lloyd Wright gesprochen, das Robie House gezeigt, und da sagte er: ,Wenn jemand den Schnitt nicht versteht, dann hat er von Architektur nichts verstanden’, und ich hab immer auf das Bild geguckt und dachte, ich verstehe es aber nicht!“ Der 2017 verstorbene Stuttgarter Städtebauer Wolfgang Schwinge, ein Weggefährte von Lederer, fasste einmal zusammen: „Arno Lederer ist ja heute noch wütend auf diese Zeit, weil man ihn dazu drängen wollte, sich politisch zu positionieren und er eigentlich nur Architekt werden wollte.“
Das wurde er. Und was für einer! An seinen vielen herausragenden Bauten, die ab 1985 in Partnerschaft mit seiner Frau Jórunn Ragnarsdóttir und ab 1992 auch gemeinsam mit Marc Oei (LRO) entstanden, kann eine Entwicklung in Richtung Rematerialisierung beobachtet werden – eine Art Nachwirkung seiner Anstellung beim Schweizer Architekten Ernst Gisel ab 1977, bei dem er nach eigenem Bekunden mehr mitgenommen hat als während seiner gesamten Studienzeit. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber im Grunde ging es bei Lederer und seinen Partner*innen seit den frühen 1990er Jahren, seit dem Finanzamt Reutlingen von 1991 und seiner anthrazitfarbenen Klinkerfassade mit weißen Lagerfugen um eine Absetzbewegung: weg von den klassisch-modern anmutenden Putzfassaden, wie sie etwa noch die Stadtmitte Fellbach (1987), das erste große Projekt des Büros, kennzeichnete.
Freilich war Lederer nie ein humorbefreiter Modernist, wie man gerade in Fellbach sieht: Die im Innenhof platzierte Bibliothek erscheint mit ihrer gebogenen, blau-weiß gestreiften Außenwand wie Obelix nach einem Wildschweinmahl, und die Tiefgaragenentlüftung hält Äquidistanz zwischen ionischem Säulenkapitell und Mickey Mouse. In den Folgejahren trat jedoch an die Stelle der gebauten Ironie die Haptik körperhaft dramatisierter Räume – die intensive Beschäftigung mit skandinavischen Architekten wie Sigurd Lewerentz oder Peter Celsing zeigte ihre Wirkung. Das Lob des Unexakten mit grob vermörteltem oder recycletem Ziegelmauerwerk, welches Meisterwerke wie das Diözesan-Archiv mit Bischöflichem Ordinariat in Rottenburg (2013), das Kunstmuseum Ravensburg (2013) oder die Sparkasse Ulm (2015) prägt, trat erstmals beim Tagungszentrum der Katholischen Akademie Stuttgart-Hohenheim (1999) auf. Mit all diesen Bauten hat sich Arno Lederer mit seinen mal stoisch geschlossenen, mal idiosynkratisch ausgreifenden Bauten zweifellos in die Architekturgeschichte eingeschrieben.
Arno Lederer war nicht nur einer der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Architekten, sondern auch der unterhaltsamste Essayist unter seinen bauenden Kolleg*innen hierzulande. Manche seiner Texte – insbesondere sein am 6. Januar 2022 erschienener Welt-Artikel „Diese Diffamierungen schaden allen Architekten“, mit dem er die Berliner Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt nach Kritik aus der Architekt*innenschaft den Rücken zu stärken versuchte –, können nicht anders als konservativ bezeichnet werden. Doch Lederer war immer auch ein begnadeter Hakenschlager, der sich eindeutigen Lagerzuordnungen entzog.
Man denke etwa an seinen ZEIT-Artikel „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ vom 23. Dezember 2008, in dem er, immerhin ein Mitglied des Preisgerichts für den Wettbewerb zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses (Humboldt-Forum), nicht etwa den Siegerentwurf von Franco Stella, sondern den nur mit einem Sonderpreis ausgezeichneten Kuehn-Malvezzi-Entwurf zur Realisierung vorschlug. Hätte man auf Lederer gehört, wäre Berlin Einiges erspart geblieben. Und lange vor Eyal Weizman, der vor wenigen Monaten in einem Artikel der Berliner Zeitung die Benennung einer der wichtigsten deutschen Architektur- bzw. Architekturtheoriepreise nach dem Nationalsozialisten Erich Schelling kritisierte, war es Lederer, der bereits 2009 den Finger in diese Wunde gelegt hatte: Auf dem Symposium Zum Beispiel Schelling im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main und in einem nachgeschobenen Bauwelt-Artikel stellte er die Integrität des Namensstifters infrage – was Reaktionen der Schelling-Architekturstiftung hervorrief. Man glaubte dort mit der Unterstellung parieren zu müssen, dass Lederers Schelling-Intervention doch nur kalkulierte Begleitmusik zum 2010 erfolgten Abriss der 1955 fertig gestellten Erich Schelling’schen Volksbank am Karlsruher Marktplatz sei. An deren Stelle kam wenig später einer der besten Bauten der badischen Hauptstadt der letzten Jahre zur Umsetzung: das 2011 vollendete Kaiserkarree von LRO.
Lederer griff nicht nur im Eifer des Gefechts in die Tastatur, sondern schrieb vor allem freiwillig und gern. Das konnte man beispielsweise an der von ihm 2003 an der Universität Karlsruhe gegründeten und Egon Eiermann heraufbeschwörenden Architekturzeitung ach, Egon sehen (später, mit der Rückkehr Lederers an die Universität Stuttgart, wo er zwischen 2005 und 2014 das Institut für öffentliche Bauten und Entwerfen (IÖB) leitete, erschien sie noch eine Zeit lang unter dem Titel ach. Ansichten zur Architektur). Und das sieht man ganz aktuell an dem eben publizierten Essayband Drinnen ist anders als draußen: Architektur lesen, der anlässlich von Lederers 75. Geburtstag vorgelegt wurde. Darin präsentiert sich ein ebenso sensibler wie meinungsstarker Architekt, dem ausdrückliches Formenspiel und eindrückliche Formulierungen gleichnah standen.
Ach, Arno, ach: Der Verfasser erinnert sich nicht nur gerne an die empathischen Auftritte des passionierten Architekturlehrers und amüsanten Undogmatikers auf den Fluren der Universität Stuttgart, sondern auch an viele Außerhaus-Treffen. Vor allem an eines im Jahr 2018, das im Rahmen einer Veranstaltung des Ludwigsburger Architekturquartetts stattfand. Es stand eine Diskussion über das eben vollendete Stadtpalais – Museum für Stuttgart von LRO auf dem Programm. Um das Gebäude zu erläutern, traf sich der Architekt vorab mit den Diskutant*innen. Er kam mit seinem kleinen Hund von gewinnender Niedlichkeit – und gestand beim Rundgang, dass er zu „schwierigen Terminen“ stets seinen tierischen Kollegenfreund mitbringen würde.
Vor ein paar Monaten wollte er noch einmal neu durchstarten, in räumlicher Nähe zum Berliner Wohnsitz im Corbusierhaus. Im Rahmen eines seit mehreren Jahren laufenden Generationenwechsels hatte Arno Lederer nach und nach seine Anteile an der Stuttgarter Firma LRO abgegeben; seit 2021 sollte seine primäre Aufmerksamkeit dem Aufbau des neuen Büros „Lederer Ragnarsdóttir Architekten PartGmbB“ gelten, das Sohn Sölvi mit seinen Eltern in Berlin gegründet hatte. Dann, aus heiterem Himmel im Herbst letzten Jahres, eine schreckliche Diagnose. Arno Lederer verstarb nach kurzer schwerer Krankheit am Samstag, den 21. Januar 2023. Allen, die ihn kannten, wird er schmerzlich fehlen. Dem Architekturdiskurs in Deutschland und darüber hinaus hinterlässt er eine große Lücke.
Kommentare:
Kommentare (15) lesen / Meldung kommentieren