Von Caspar Schärer
Für Christian Menn gab es einen Begriff, der ihm alles bedeutete: Das „Gleichgewicht“ als physikalische Größe, aber eben auch als generelle Leitschnur. Im „Gleichgewicht“ enthalten sind „Balance“, „Harmonie“ und „Ausgewogenheit“. „Hinzu kommt die Einheitlichkeit“, sagte mir Menn bei einem meiner zahlreichen Besuche in seinem Haus hoch über Chur, der Hauptstadt des Schweizer Kantons Graubünden.
Wir arbeiteten an einem Buch, das 2016 schließlich erschien. Ich wurde ihm vom Verlag vor die Nase gesetzt, und anfangs war er ziemlich skeptisch. Auf Architekten war er nicht gut zu sprechen. Wir fanden aber schnell zueinander, und er weihte mich in seine „Philosophie des Brückenbaus“ ein. Erst wenn alles im Gleichgewicht sei – neben der Tragsicherheit, Dauerhaftigkeit und Gebrauchstauglichkeit, dem sparsamen Einsatz der Mittel und eben der Schönheit – könne eine Brücke als gelungen bezeichnet werden. Für Christian Menn war die Ästhetik nicht einfach ein nice to have, sondern das zentrale Thema all seines Wirkens. Er gestand mir sogar, dass er bei seiner ersten Brücke, der Crestawaldbrücke in Sufers (1959) die erwünschte Form höher gewichtete als die beste Konstruktion: „Ich wollte unbedingt den Bogen als Sichel formen. Der Zweigelenkbogen ist aber vom grundsätzlich Konstruktiven bei einer Brücke wie dieser nicht richtig. Aber ich fand, dass die Sichel schöner aussieht.“
Nicht ohne Grund wurde Menn vom amerikanischen Ingenieurhistoriker David Billington in dessen Buch „The Art of Structural Design“ in eine Reihe mit großen Schweizer Brückenbauer wie Wilhelm Ritter (1847–1906), Robert Maillart (1872–1940) und Othmar Ammann (1879–1965) gestellt. Im aufkommenden und danach blühenden Industriezeitalter mit seinem unersättlichen Bedarf an Infrastrukturbauten waren sie es, die aus Brücken weit mehr machten als bloße technische Verbindungen von A nach B. Konstrukteuren wie Maillart und Menn ist es zu verdanken, dass es in der Schweiz bis heute eine Tradition des guten Brückenbaus gibt, auch wenn sie mehr und mehr in Vergessenheit gerät.
Christian Menn war zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle, als sein Heimatkanton Graubünden in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine Autobahn über die Alpen plante; die erste wintersichere Straßenverbindung durch die Schweiz. Nach seinem Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich und einem kurzen Abstecher ins Büro des legendären Ingenieurs Pier Luigi Nervi (1891–1979) in Paris – wo er sich übrigens wunderte über die aus seiner Sicht ästhetische Nachlässigkeit des Meisters – packte Menn die Chance, die sich beim Bau der San-Bernardino-Autobahn bot. Zwischen Thusis und Roveredo baute er ein gutes Dutzend Brücken, darunter so berühmte Exemplare wie die Viamala-Brücke, die sich als geometrisch komplexer Bogen in schräger Linie über die tiefe Schlucht direkt zu einem Tunnelportal spannt.
In den 14 Jahren seiner Karriere als selbstständiger Ingenieur baute Christian Menn rund 90 Brücken. Er beschäftigte sich intensiv mit Bogenbrücken, die er konstant weiterentwickelte – fast bis zur Perfektion. Später studierte er mit Akribie und Hartnäckigkeit die Möglichkeiten der Vorspanntechnik, die es erlaubt, Balkenbrücken mit großen Spannweiten zu realisieren. Nach einigen Dutzend Balkenbrücken in der ganzen Schweiz fand sein an der Praxis orientiertes Experimentieren in der über 1100 Meter langen Felsenau-Brücke bei Bern (1972–74) einen vorläufigen Höhepunkt.
1971 wurde Christian Menn als Professor an die ETH berufen; er wurde ein engagierter Hochschullehrer, bei dem Generationen von Ingenieuren ihr Handwerk lernten. Nach seiner Emeritierung 1992 kehrte er in sein Büro zurück. Die Spannweiten wurden nun wesentlich größer und die Brückentypen vielfältiger: Menn stieß in das Gebiet der Schrägseilbrücken vor – und es kamen vermehrt Aufträge aus dem Ausland. Besonders in den USA erregte Christian Menns Gestaltungswille viel Aufmerksamkeit, auch wenn mit der Leonard P. Zakim Bunker Hill Memorial Bridge in Boston nur eines seiner Projekte ausgeführt wurde. Es markierte dafür den Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Mit der Sunnibergbrücke bei Klosters konnte er Anfangs der 2000er Jahre noch eine wichtige Brücke in Graubünden bauen.
Bis zuletzt dachte Christian Menn an Brücken und Straßen herum: Er mischte sich sogar aktiv in einen gesamtschweizerischen Abstimmungskampf ein, als er sich mit einem eigenen Projekt einer in die Landschaft eingepassten Straße über den Gotthard gegen einen zweiten Autobahntunnel positionierte. Sein Vorschlag konnte den Tunnel zwar nicht verhindern, aber nichtsdestotrotz hatte er wieder eine schöne Straße durch die Alpen entworfen. Denn das sollte es eigentlich immer geben: schöne Straßen.
Fotos: Ralph Feiner
Zum Thema:
Caspar Schärer, Jg. 1973, ist Architekt und Publizist und Mitherausgeber von „Christian Menn – Brücken“, das 2016 im Verlag Scheidegger & Spiess erschien. 2008–17 war er Redaktor bei werk, bauen + wohnen, seit 2017 ist er Generalsekretär des Bunds Schweizer Architekten BSA.
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Nicole | 23.07.2018 17:02 UhrEin großer Lehrer
Prof. Menn war ein großartiger Lehrer. Er schaffte es seine Studierenden nicht nur für den Brückenbau, sondern für die Statik an sich zu begeistern. Er vertrat die These, dass gute Ingenieure nicht rechnen müssen. Alle wesentlichen Probleme müssen gelöst sein, bevor mit dem Rechnen begonnen wird.
Im Brückbau konnte er dogmatisch sein und wollte unbedingt seine Überzeugungen weiter geben. Als Negativbeispiele verwendete er gerne eigene Projekte aus frühreren Zeiten. Er zeigte daran, welche Schäden entstehen, wenn man es beispielsweise mit der Schlankheit übertreibt. Das bezeugt aus meiner Sicht seine Größe aber auch seine Unruhe, die Suche nach Perfektion und den Wunsch immer weiter zu lernen.
Mein Respekt.