Am 8. September eröffnet die Manifesta in Barcelona. Die 15. Ausgabe der europäischen Wanderbiennale möchte einen völlig neuen Blick auf die katalanische Hauptstadt werfen. Sie wagt sich weit in die Metropolregion hinein, gräbt vergessene Geschichten aus, aktiviert ein gewaltiges Kraftwerk als Kulturort – und geht auch da hin, wo es weh tut.
Von Gregor Harbusch
Klarer Fall: Barcelona gehört zum Pflichtprogramm eines jeden Städtereisenden. Architekt*innen freuen sich über den rigorosen Städtebau in Eixamples von Cerdà, aufregende Neubauten und die progressive Verkehrs- und Freiraumplanung (Stichwort „Superblock“). Otto Normalreisende lieben die Altstadt, das Meer und die wunderbaren Boulevards. Und auf Gaudí können sich eh alle einigen.
Die Kehrseiten dieses Hypes sind bekannt: Overtourism, viel zu viel AirBnB, hohe Mieten und ökologische Belastungen. 2015 wurde die linke Stadtaktivistin Ada Colau Bürgermeisterin und ging diese Themen vehement an. Ein Baustein in ihrer Politik für die Stadt und ihre Bewohner*innen war die Einladung der Manifesta nach Barcelona. Denn die europäische Wanderbiennale hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr auf die Fahnen geschrieben, gesellschaftliche und soziale Probleme der Städte zu adressieren, in denen sie zu Gast ist. Die Eröffnung der Manifesta im Herbst liegt jedoch nicht mehr in Colaus Händen. Sie verlor im letzten Jahr die Wahl gegen den deutlich moderateren und pragmatischeren Jaume Collboni.
Blick in die Peripherien
Als die Manifesta vor zwei Jahren in Prishtina gastierte, ging es darum, eine der jüngsten und ärmsten Hauptstädte Europas überhaupt auf der mental map der Kulturwelt zu verorten und damit auch die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des Kosovos breiter bekannt zu machen. Auf Barcelona muss man freilich keinen mehr aufmerksam machen. Die Ausgangslage der Manifesta ist hier eine komplett andere. Um zu beweisen, dass die Wanderbiennale in der katalanischen Hauptstadt ihre Berechtigung hat, luden Manifesta-Direktorin Hedwig Fijen und ihr Team kürzlich ein, um Orte und Themen zu präsentieren.
Das übergeordnete Thema trägt die Ausstellung nun auch im Titel: „Manifesta 15 Barcelona Metropolitana“. Es geht um die Metropolregion, sozial schwierige Stadtviertel in der Suburbia, um vergessene historische Emanzipationsbewegungen, Entwicklungskonflikte, Verkehrsfragen – und immer auch um die Möglichkeiten, mit den Mitteln der Kunst Denkanstöße zu geben und auf laufende Planungsprozesse zu reagieren. Circa 70 Künstler*innen werden die insgesamt 20 Orte der Manifesta bespielen, von denen manche bis zu 25 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt sind. Hinzu kommen Recherchen, ein Bildungsprogramm und weitere Aktivitäten, die teilweise bereits laufen und die lokale Bevölkerung adressieren. So ist beispielsweise geplant, während der Manifesta die große Verkehrsachse, die die Altstadt vom Meer trennt, an mindestens einem Sonntag für den Autoverkehr zu sperren und zu einem temporären Fahrrad-Boulevard umzuwidmen.
Sorgen und Reparieren
Die Manifesta-Macher*innen denken Räume und Themen zusammen und haben drei Cluster definiert. „Cure and Care“ wird in Orten zwischen und auf den Hügeln der Serra de Collserola im Norden Barcelonas verhandelt. Hier, in der grünen Lunge der Region, geht es um Sorgetragen und Reparatur. Zugleich wird am weitesten in die Geschichte zurückgeblickt, etwa bei der frühmittelalterlichen Kirchenanlage in Terrassa, die Anwärterin für die Unesco-Welterbeliste ist. Oder beim Kloster Sant Cugat del Vallès, das Hauptort dieses Themenclusters sein wird. Wer sich zu diesen uralten und stillen Orten aufmacht, erlebt die Agglomeration von ihrer ehrlichsten Seite, wenn er die massiven Infrastrukturen und Wohnsiedlungen passiert, die in den letzten Jahrzehnten in die Topografie der Landschaft gesetzt wurden.
Zukunft entwerfen
In den Ausstellungsorten rund um den Fluss El Besòs am nördlichen Stadtrand und bis weit hinaus nach Badalona und Mataró soll das Thema „Imagining the Future“ verhandelt werden. In dieser Gegend liegen die sozial schwächsten Wohnviertel ganz Kataloniens – aber auch das, was vielleicht irgendwann zur „Tate Modern Barcelonas“ werden könnte: ein ehemaliges Kraftwerk in direkter Strandlage, das die Barceloner*innen Tres Xemeneies (Drei Kamine) nennen. Die Anlage wird zur Manifesta erstmals öffentlich zugänglich sein. Doch es geht hier nicht nur um Kunst, wie die riesigen Brachen rund um den Betonkoloss verraten, die in den nächsten zehn Jahren durch ein Konsortium privater und öffentlicher Eigentümer*innen bebaut werden sollen. Die Planer*innen haben sich eine innovative Mischnutzung und ein Drittel Sozialwohnungsbau vorgenommen. Der Wettbewerb für eine großzügige Parkanlage wird in den kommenden Monaten ausgelobt.
Konflikte ausbalancieren
Komplett anders ist die Situation in der wunderbaren Casa Gomis am Lobregat – dem zweiten großen Fluss in Barcelona, der südlich der Kernstadt verläuft. Zwischen 1947 und 63 in traumhaft ruhiger Strandlage errichtet und einst ein Ort, an dem sich die Kulturszene der Stadt traf, ging es dem Haus in der Zwischenzeit massiv an den Kragen. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1992 wurde nämlich der nahe Flughafen um eine dritte Start- und Landebahn ergänzt, die bis wenige Hundert Meter an das Haus heranreicht. Das berührt freilich nicht nur Privatinteressen, denn die nähere Umgebung ist ein Naturschutzgebiet, das durch weitere, aktuelle Ausbauplanungen des Flughafens bedroht wird. Selten werden planerische Zielkonflikte so physisch schmerzhaft deutlich wie an diesem Ort zwischen startenden Fliegern und bedrohtem Flussdelta. Die Villa ist dementsprechend Hauptort des dritten Themenclusters „Balancing Conflicts“.
Netzwerke statt Big Names
Wer die letzten Ausgaben der Manifesta verfolgt hat, weiß, dass die Hinwendung zur Stadt auch zu neuen kuratorischen Konstellationen führte. Bei der Manifesta in Palermo im Jahr 2018 leitete mit Ippolito Pestellini Laparelli vom Rotterdamer Büro OMA sogar ein Architekt das Team der Creative Mediators (so der offizielle Titel des künstlerisch Verantwortlichen). In Marseille 2020 und Prishtina 2022 erarbeiteten Winy Maas von MVRDV (Rotterdam) beziehungsweise Carlo Ratti Associati (Turin) Studien im Vorfeld der Ausstellung.
Bei den Vorbereitungen für Barcelona war Sergio Pardo, der in New York lebt und sich an den Schnittstellen von Kulturpolitik, Kunst, Architektur und Place Making bewegt, als Creative Mediator involviert. Auf ihn folgt nun die portugiesische Kuratorin Filipa Oliveira. Doch ihre Rolle beschränkt sich bewusst auf die drei Hauptausstellungsorte. Manifesta-Direktorin Hedwig Fijen betont, dass sie nach über 30 Jahren in der Kunstwelt „Ego-Kurator*innen“ ein wenig leid sei. Stattdessen setzt sie ganz auf Netzwerke, lokale Kooperationen und flache Hierarchien. Doch Fijen bleibt flexibel und betont, dass in Zukunft alles auch wieder ganz anders sein könne. Die Strukturen der Manifesta müssten schlicht und ergreifend zum Ort und dessen Herausforderungen passen. Und die sind durchaus eindrucksvoll: Nach der Manifesta 2026 im Ruhrgebiet soll es 2028 immerhin nach Kiew gehen. Doch zuerst einmal wartet Barcelona darauf, neu entdeckt zu werden.
Die Manifesta 15 Barcelona Metropolitana läuft vom 8. September bis zum 24. November 2024. Weitere Infos auf manifesta15.org.
Zum Thema:
Der Manifesta 14 im kosovarischen Prishtina 2022 und der Manifesta 12 in Palermo 2018 widmeten wir ausführliche Baunetzwochen. Die Manifesta 13 in Marseille 2020 konnten wir wegen Corona nicht besuchen.
Einen Blick auf beispielhafte Sozialwohnungsbauten in der Peripherie von Barcelona warf Baunetzwoche#598.