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15.11.2024

Architektur im Grenzbereich

Zum 80. Geburtstag von Rem Koolhaas


Rem Koolhaas gehört zu den einflussreichsten Architekten der Gegenwart. Nicht nur die frühen Bauten seines Büros OMA, sondern vor allem seine theoretischen Arbeiten prägten mehrere Generationen. Am kommenden Sonntag, 17. November wird er 80 Jahre alt.

Von Holger Schurk

Erst im Alter von 23 Jahren beschließt Rem Koolhaas Architekt zu werden. Sein Vater ist Schriftsteller, seine Mutter Kostümbildnerin, er selbst Filmemacher und Journalist. Als Koolhaas sich zum Studium an die Architectural Association AA nach London begibt, schreiben wir das Jahr 1968, und er tritt in eine Disziplin ein, deren Hierarchien, Werte und Arbeitsmethoden gerade durchgeschüttelt werden. An der AA dominiert das Flower-Power-Verständnis von Archigram. Studierende bauen Megastrukturen aus Zuckerwürfeln. Aber Koolhaas sucht eine ernsthafte Architektur, und so ist seine Position von Beginn an durch Skepsis, Reibung und Widersprüche gekennzeichnet.

Neben den allgegenwärtigen Themen der Gesellschaft nimmt er vermehrt ihre konkreten Räume, ihre Begrenzungen, Barrieren, Mauern und Durchgänge in den Blick. Bereits seine ersten Projekte werden legendär: „Berlin Wall as Architecture“, eine historische Bauwerksstudie, oder „Exodus, or the Voluntary Prisoners as Architecture“, sein Abschlussprojekt an der AA. Koolhaas identifiziert das eigentliche Potential der Architektur in den Ereignissen, die durch räumliche Situationen ausgelöst werden – immer dann, wenn unterschiedliche oder sogar widersprüchliche Dinge aufeinandertreffen, sich dabei kontaminieren, Spannungen erzeugen oder temporär außer Kontrolle geraten.

Sein 1978 erschienenes Buch Delirious New York, kann dementsprechend als Grundlagenforschung für das von ihm drei Jahre vorher mitgegründeten Office for Metropolitan Architecture OMA verstanden werden. In scheinbar zusammenhangslosen Episoden analysierte er New York als „Laboratorium“, seinen zentralen Bautyp als „Automonument“, seine Planungswerkzeuge als „Kollektivmatrix“ und das unterbewusste Wechselspiel aus vernünftigen und unvernünftigen Entscheidungen als „paranoisch-kritische Methode“ (PCM).

Es ist ein schwieriger Plot für eine Büropraxis. Die Anwendung der gefundenen Prinzipien auf die Architektur der Gegenwart gelingt OMA erst zehn Jahre später. 1989 wird dabei zum Schlüsseljahr, als drei Wettbewerbe für große öffentliche Gebäude – Sea Terminal in Zeebrügge, Très Grande Bibliothèque in Paris und Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe – in einem Laboratorium gemeinsam bearbeitet werden und OMA zu Resultaten führt, die die eigene Arbeit fortan prägen und die Grenzen der Architektur erweitern: eine Serie eigentümlich abstrakter Objekte, irgendwo im Bereich zwischen Konzept und Projekt, zwischen Schema und Bild, zwischen Haus und Stadt.

Koolhaas und sein Team unterlaufen dabei die formale Kompositionsmethode der Beaux-Arts-Schulen und finden über abstrakte Organisationsmodelle zu räumlichen Diagrammen, die sowohl schematisch als auch ikonisch verstanden werden können und dabei stets offen bleiben für zukünftige Anpassungen. Es ist der Ursprung dessen, was er 1995 im Buch S,M,L,XL gemeinsam mit Bruce Mau zur Bigness-Theorie ausbaut und was in der Folge als diagrammatic Architecture von vielen Büros weltweit aufgegriffen wird.

Wann immer möglich, verschiebt Koolhaas fortan die Praxis vom Stabilen ins Instabile, von der Klarheit in die Unschärfe, von der Ordnung ins Hybride. In der 1992 eröffneten Kunsthal in Rotterdam (zu der vor zwei Jahren eine Gebäudemonographie erschienen ist) durchstoßen zwei öffentliche Wege einen Baukörper, der von vier unterschiedlich materialisierten Fassaden umschlossen und durch (mindestens) vier unterschiedliche Tragsysteme stabilisiert wird. Einige Jahre später balanciert das massive Obergeschoss der Maison à Bordeaux derart asymmetrisch zwischen Stützen, Träger und Treppenkern, dass es in einer ikonischen Inszenierung wieder nach unten abgespannt werden muss. Und wiederum einige Jahre später ermöglichen die horizontal und vertikal verschobenen Gebäudeeinheiten der Seattle Central Library öffentliche Nutzungsbereiche, die vom Auftraggeber eigentlich gar nicht vorgesehen waren.

Legendär werden auch viele von Koolhaas’ theoretischen Arbeiten. Aufsätze, wie Generic City, wo er die globale Stadtlandschaft in ihrer ganzen Eigenschaftslosigkeit bloßstellt, oder Junk Space, wo er den Trash der allgegenwärtigen Instant-Bauproduktion nicht nur beim Namen nennt und messerscharf analysiert, sondern auch nach Impulsen für die zeitgenössische Architekturpraxis absucht.

Mit AMO – OMAs virtuellem Zwilling für Forschung und Kultur – und ebenso mit seiner Lehr- und Forschungstätigkeit an der Harvard University wagt sich Koolhaas schließlich nochmals weiter in die Grenzbereiche der Architektur vor: Pearl River Delta, Lagos, Shopping oder Countryside. In Studien, Feldforschungen, Beratungen oder Interview-Marathons untersucht er die Mechanismen der Stadtentwicklung, der Ökonomie, des Konsums, der Mode oder der politischen Institutionen und gleitet seither in unterschiedlichen Rollen scheinbar schwellenlos durch die unterschiedlichen disziplinären Formate.

Manchmal entsteht dabei der Eindruck, der Kreis könnte sich irgendwann wieder schließen und Koolhaas könnte zum Journalismus zurückzukehren. Es wäre nicht einmal ein Widerspruch, denn mehrfach hat er betont: „Für mich ist Architektur eine intellektuelle Disziplin.“


Zum Thema:

Der Autor hat 2018 an der Akademie der bildenden Künste in Wien mit einer Untersuchung der Entwurfsprozess von OMA in den 1980er Jahren promoviert. Die bei Spector Books erschienene Publikation haben wir vor drei Jahren als Buchtipp vorgestellt.

In BauNetz WOCHE #365 fragte unser Autor provokativ „Wie viel Architektur steckt in OMA?“. In BauNetz WOCHE #538 sprach Koolhaas über sein potenzielles Vermächtnis. Das Fazit unseres Artikels zum 70. Geburtstag von Koolhaas lautete übrigens „Forever Young“.


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Rem Koolhaas vor der Nationalbibliothek in Katar, Foto: Charlie Koolhaas

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