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07.07.2020
Blick in die Glaskugel
Zukunftsvision für Kuehn Malvezzis Rieck-Hallen in Berlin
Dem Berliner Kunstmuseum Hamburger Bahnhof droht Ungemach. Die Rieck-Hallen, 2004 nach Plänen von Kuehn Malvezzi umgebaut und seither erfolgreich als Erweiterungsbau bespielt, sollen abgerissen werden. Hinzu kommen die unklaren Eigentumsverhältnisse des historischen Hauptgebäudes, die kürzlich publik wurden. Vieles ist momentan offen, die Situation angespannt. Es liegt im Trend, aus der Zukunft einen fiktiven Blick zurück auf das Heute zu werfen. Was läge näher, als dies auch hier zu tun?
Von Katrin Voermanek
Schauen wir also in die Architekturglaskugel und stellen uns vor, im Jahr 2037 in der Berliner Europacity zu stehen... Über die Heidestraße schnurren Elektroautos und autonome Shuttles. Sie beanspruchen nur noch jeweils eine Spur, Radfahrer und Flaneure haben mehr Platz bekommen. Es ist doch noch ein Boulevard aus dieser einst unwirtlichen Rennstrecke geworden. Nachdem die „kuratierten Erdgeschosse“ in den ersten Jahren eine leere Floskel geblieben waren, siedelten sich schließlich doch noch ein paar attraktive Nutzungen an, die das Straßenbild beleben. Die Uferzone entlang des Kanals läuft heute durch und ist ein beliebter, von Cafés gesäumter Spazierweg geworden.
Zwischen den vielen Neubauten blieb ein typischer Berliner Gewerbehof erhalten, der an die wilden Zeiten der Heidestraße erinnert. Als sozio-kulturelle Denkmale der etwas anderen Art findet man hier einen Club, einen Billardsalon und einen Hubsteiger-Verleih, damit sich die neuen Anwohner – so wie am Potsdamer Platz durch das Weinhaus Huth und das Hotel Esplanade – vergewissern können, dass es an Ort und Stelle auch schon vor ihnen städtisches Leben gab. Bereits 2004 hatten auch Kuehn Malvezzi in diesem Hof ihr Büro eröffnet. Nebenan arbeiteten die vielversprechenden, aber damals noch nicht ganz so weltberühmten Künstler Olafur Eliasson, Thomas Demand und Tacita Dean in ihren Ateliers. Drumherum war Wüste. Heute sind sie alle nicht mehr hier.
Kuehn Malvezzis Rieck-Hallen
Aber der Zufall wollte es, dass Simona Malvezzi, Johannes und Wilfried Kuehn seinerzeit genau hier einen Auftrag bekamen, der ihren Ruf als Kunst- und Museumsexpert*innen begründen sollte: die Herrichtung der zuvor von einer Spedition genutzten Rieck-Hallen hinter dem Hamburger Bahnhof für die Sammlung zeitgenössischer Kunst von Friedrich Christian Flick. Die Architekt*innen schufen flexible Räume, rau und unprätentiös, kraftvoll und klug. Es sollte nicht der letzte Bau von Kuehn Malvezzi sein, bei dem man ihre Eingriffe fast nicht sieht, weil alles so selbstverständlich wirkt, als sei es immer schon da gewesen.
Vielen guten Ausstellungen mit Werken aus der Flick-Sammlung – unter anderem von Martin Kippenberger, Pipilotti Rist oder Wolfgang Tillmans – boten die Rieck-Hallen einen idealen Rahmen. Wirklich einmalig wurden sie durch Bruce Naumans begehbare und eindringliche Skulptur „Room with My Soul Left Out, Room That Does Not Care“, die der amerikanische Künstler eigens an die räumlichen Gegebenheiten im letzten der fünf Hallen-Segmente passte. Andere Städte schauten neidisch auf diesen Ort, auf dieses Gegenteil eines Signature Buildings, das ähnlich wie das Dia Beacon nahe New York einfach nur seinen Zweck erfüllte, indem es zeitgenössischen Künstler*innen beste (industrielle) Bedingungen bot.
Schicksalsjahr 2020
Doch dann kam das Jahr 2020. Damals wusste tatsächlich niemand zu verhindern, dass der Mietvertrag für die Rieck-Hallen auslief, der Sammler Flick Berlin gekränkt den Rücken kehren wollte, dass plötzlich ernsthaft der Abriss der Hallen und die Neubebauung des Grundstücks durch den Eigentümer CA Immo im Raum standen. Das alles passierte in gerade jenem Jahr, in dem auch die Sammlerin Julia Stoschek ihren Wegzug aus Berlin angekündigt hatte.
Die Wellen schlugen hoch. Die Hauptstadt geriet in den Ruf, ihr mühsam aufgebautes Standing als Kunstmetropole durch politisches und kommunikatives Versagen ruiniert zu haben. Für aufkeimende Hoffnung sorgte eine gründliche Recherche von Boris Pofalla in der Welt, die zutage förderte, dass der Verkauf des Hamburger Bahnhofs an die CA Immo aufgrund komplexer Eigentumsverhältnisse womöglich gar nicht rechtens war. Immerhin gab das Immobilienunternehmen, nach eigener Auskunft natürlich weniger der Kunst als den eigenen Aktionär*innen verpflichtet, damals bekannt, eine vollständige Neubebauung des Grundstücks sei auch für sie gar nicht unbedingt die einzige Option.
Stets war in all den Diskussionen viel zu wenig von den architektonischen Qualitäten der Rieck-Hallen die Rede. Abriss oder Teilrückbau schienen beschlossene Sache zu sein. Als Trostpflaster sollte ein Ersatzneubau direkt hinter dem Hamburger Bahnhof dienen, der anders als die 300 Meter langen Hallen ausreichend immobilienwirtschaftlich verwertbare Fläche frei ließ. Vielleicht passiert es, wenn man so erfolgreich unsichtbar baut wie Kuehn Malvezzi, dass sich nicht so schnell wie anderswo eine Initiative zur Rettung eines Gebäudes gründet? „Wir sind nicht sentimental“, sagte Wilfried Kuehn, angesprochen auf den drohenden Abriss, einmal ganz pragmatisch. Man sei als Architekt*innen nicht gegen Veränderung, kein Bau müsse für immer stehen bleiben.
Wende zum Guten
Zum Glück kam es dann ja doch ganz anders! Wir stehen 2037 wieder einmal mit einem Drink bei einer Ausstellungseröffnung in den längst denkmalgeschützten Rieck-Hallen und wundern uns: Was war das doch für eine Ignoranz, die 2020 aus dem Abriss-Szenario sprach – gegenüber der ortsspezifischen Kunst und vor allem gegenüber der Architektur, auch wenn man diese zu Beginn nur temporär gedacht hatte!
Den klugen, 2019 entstandenen Entwurf von Xiaotang Tang (einer ehemaligen Studentin von Kuehn Malvezzi) für die Julia-Stoschek-Collection hatte auch noch jemand rechtzeitig auf den Tisch gespielt. Die Architektin konnte den Bau am Humboldt-Hafen umsetzen, Stoschek kehrte Berlin doch nicht den Rücken, Gegenwarts- und zeitbasierte Kunst fanden in direkter Nachbarschaft ein Zuhause.
Also stoßen wir darauf an, dass sich Politik, Kulturinstitutionen und Immobilienwirtschaft 2020 im letzten Moment darauf besinnen konnten, welchen Schatz sie da haben, inmitten des Retorten-Quartiers rund um den Berliner Hauptbahnhof. Der „Kunstcampus“ – mit dem sich die Europacity auf jedem Übersichtsplan zu schmücken wusste – hat, nachdem er fast verspielt war, seinen Namen endlich verdient.
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„Katharina Grosse. It Wasn’t Us“, Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2020 / Courtesy KÖNIG GALERIE, Berlin, London, Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien © Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Kuehn Malvezzi verbanden die Rieck-Hallen und das historische Bahnhofsgebäude 2004 durch eine skulpturalen Brückenbau.
Der Gewerbehof in der Heidestraße ist das letzte Relikt der alten Nutzungen in der Berliner Europacity, das sich bis heute gehalten hat.
Modell von Xiaotang Tangs Entwurf für die Julia-Stoschek-Collection am Humboldt-Hafen direkt gegenüber dem Hauptbahnhof.
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