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12.04.2023

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Buchtipp: Europäische Nachkriegsmoderne

Wohnungsbau zwischen 1945 und 1975


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Ein Großteil der Europäer*innen lebt in Wohnbauten der Nachkriegsmoderne. Kein Wunder, denn die Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg führten zu einer großen Wohnungsnot, bedingten aber auch einen entsprechenden Bauboom. Heute genießen die zahlreich entstandenen Massenwohnbauten dieser Zeit bei Vielen jedoch kein gutes Ansehen.

Vor diesem Hintergrund fragt die im Triest Verlag erschienene Publikation The Renewal of Dwelling. European Housing Construction 1945–1975, welche Ansätze jene Phase für zeitgemäßes urbanes Wohnen bereithielt. Dem Buch gelingt es eindrucksvoll, nicht nur das Image der europäischen Nachkriegsmoderne aufzupolieren. Vor allem unternahmen die Herausgeber*innen Elli Mosayebi und Michael Kraus eine Neubewertung der architektonischen Qualitäten und fragten gleichermaßen nach den politischen Entstehungsbedingungen für die Architektur. Statt auf bloße Quantität und Monotonie, wie sie den Bauwerken allzu oft nachgesagt wird, stießen sie bei ihren Recherchereisen auf eine große Vielfalt, auf Experimentierfreude und kontextspezifische Eigenheiten.

Die Suche nach diesen lokalen Spezifikationen war auch der Grund dafür, nicht die vermeintlichen Zentren des Diskurses wie Berlin oder London in den Blick zu nehmen, sondern Zagreb, Köln, Oslo, Porto, Lyon, Athen sowie die englischen Städte Liverpool, Leeds, Manchester und Sheffield. Dort sei die Architektur nicht den Idealen einer Avantgarde-Bewegung verpflichtet gewesen, schreiben die Autor*innen. Analog zu den sieben ausgewählten Standorten – die englischen Vertreter werden zusammengefasst – gibt es sieben farblich abgesetzte Kapitel. Darin präsentiert die Publikation mithilfe von historischen wie aktuellen Fotografien, neu gezeichnetem Planmaterial und kurzen Texten jeweils mehrere Bauten. Bei genauer Durchsicht der Abschnitte werden die lokalen Besonderheiten der Städte und Regionen durchaus deutlich.

So sieht man in England brutalistische Großstrukturen, die ganze Quartiere formen und ihre Vorfertigung in der Fassade zur Schau tragen, während in Athen der vergleichsweise kleine, aber sehr flexible Typ der Polykatoikia als Grundbaustein des modernen griechischen Städtebaus vorherrscht. In Oslo wiederum zeigt sich die Architektur als ein Aushandeln von urbaner Dichte anhand von Topographie und landschaftlicher Umgebung, während in Lyon vorrangig riegelartige Wohnmaschinen entstanden sind. Und in Köln lässt sich unter anderem das Wirken von Oswald Mathias Ungers und dessen divergierende Ansätze nachvollziehen.  

Um dennoch eine vergleichende Einordnung zu erzielen, wurden sechs typologische Kategorien erarbeitet. Dabei werden die Projekte anhand signifikanter Merkmale klassifiziert, die beispielsweise den Umgang mit der Tragstruktur oder die Balance von großen Dimensionen und menschlichem Maßstab in den Blick nehmen. Das Buch ist aber nicht nur ein reiches Potpourri nebeneinander gestellter Typologien und Grundrissstudien – was schon erhellend genug wäre. Am Ende jedes Kapitels beleuchtet außerdem ein Essay die jeweilige Rolle der lokalen Politik als Rahmen für die Wohnungsbauprojekte.

Fast 400 Seiten umfasst die Publikation. Verliert man sich gerne in präzisen Plandarstellungen und hochwertigem Bildmaterial, so kann die Lektüre einige Zeit dauern. Wer nicht zur minutiösen Begutachtung jedes einzelnen, lohnenden Projekts neigt, dem seien einige Highlights ans Herz gelegt. Etwa die Wohntürme „Rockets“ in Zagreb mit ihren ungemein kraftvollen, ausgespreizten Betonstützen. Ebenso die Terrassenhäuser in Oslo, die sich mit einer endlosen Kaskade von Treppen in den Hang legen. Oder die 1992 nach nur 15 Jahren Existenz wieder abgerissene Anlage „Southgate Estate“ in Runcorn bei Liverpool von James Stirling und Michael Wilford, der erst kürzlich verstarb. Der Gebäudekomplex setzte sich aus zahllosen Reihenhäusern zusammen, die wie überdimensionierte Waschmaschinen anmuten und zeigen, dass die Nachkriegsmoderne Beton auch mit Farbe zu kombinieren wusste.

Text: Maximilian Hinz

The Renewal of Dwelling. European Housing Construction 1945–1975
Elli Mosayebi, Michael Kraus (Hrsg.)
Englisch
396 Seiten
Triest Verlag, Zürich 2023
ISBN 978-3-03863-038-8
89 Euro


Zum Thema:

Am Donnerstag, 20. April 2023 findet um 18 Uhr eine Buchvorstellung in der Buchhandlung und Galerie von M Books (Marktstraße 16, 99423 Weimar) statt.


Kommentare
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.

3

Christian Richter | 13.04.2023 15:33 Uhr

Moderner...

Ich denke unser Begriff von "Moderne" hat sich doch etwas gewandelt. Idealistisch, intellektuell und radikal - ja, das kann den Bauten ohne weiteres zugestehen. Wie die Bilderauswahl eindrücklich zeigt, führt das aber häufig zu Gebäuden, Räumen und Orten, in denen diese Eigenschaften den Menschen keinen Mehrwert bieten, sondern im Gegenteil anonyme, nicht aneignungsfähige Stadtlandschaften schaffen. Es ist sozusagen ein intellektueller Fortschritt, in der eigenen Intellektualität keinen Fortschritt zu sehen. Auch das kann man als radikal und idealistisch bezeichnen, nämlich mehr Raum durch weniger Architektur.

2

arcseyler | 12.04.2023 20:02 Uhr

..........

60 Jahre und teilweise moderner als Heutiges. Moderne ist idealistisch intellektuell und hierin radikal. Je radikaler umso moderner.

1

arcseyler | 12.04.2023 17:15 Uhr

...........

60 Jahre und wie von heute. Und der Tanz dauert an. Unglaublich wie jung wir sind. Unsterblich

 
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