In Folge des
2. Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM II) 1929 in Frankfurt am Main erschien eine Publikation mit dem Titel „Die Wohnung für das Existenzminimum“. Darin wurden 100 kostengünstige Wohnungen im Maßstab 1:100 dargestellt. Viele Ansätze wie mehrfachfunktionale Räume oder Einbauschränke sind auch knapp hundert Jahre später noch immer aktuell. Dies gilt insbesondere, wenn es nicht um klassischen sozialen Wohnungsbau geht, sondern um Wohnen für Geflüchtete – im eigentlichen Sinne um Wohnen für das Existenzminimum.
Im Fall des Projekts Co-HATY in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk handelt es sich um die Wiedernutzbarmachung eines Gebäudes, das lange leer gestanden hatte. Errichtet worden war es Anfang der 1960er Jahre als Arbeiterwohnheim. Es hat die passende Gebäudekonfiguration für den Einbau von Mini-Apartments, Gemeinschaftswohnräumen, Küchen, Ess- und Aufenthaltsräumen sowie einem Waschmaschinenraum und einem Kinderspielzimmer. Zusätzlich entstand ein Co-Working-Bereich. Der Umbau erfolgte zwischen Ende März und Ende Mai 2022. Im Juni sind 24 unterschiedliche Wohneinheiten von 170 neuen Bewohner*innen bezogen worden.
Hintergrund des Projekts ist die humanitäre Katastrophe, die der russische Angriffskrieg in der Ukraine ausgelöst hat: rund zwölf Millionen Flüchtlinge, davon der größte Teil Binnenflüchtlinge (so genannte IDP – Internal Displaced Person) innerhalb des Landes. Manche konnten bei Verwandten und Freunden unterkommen, die meisten sind allerdings darauf angewiesen, in sichereren Landesteilen ein Dach über dem Kopf zu finden – vorerst in Zelten, Turn- und Lagerhallen und dann zum Beispiel in Wohnprojekten wie Co-HATY.
Träger des Projekts ist
Metalab, eine gemeinnützige Stiftung, der überwiegend Stadtplaner*innen und Architekt*innen angehören. Sie versteht sich eigentlich als Urban Laboratory, das Lösungen für eine zukunftsfähige Stadt erarbeitet. Im Falle dieses Projekts aber warb Metalab Mittel für den Ankauf der Baumaterialien ein und erstellte die Planung. Umgesetzt wurde das Projekt von
Second Home IF, einer Bürgerinitiative aus Iwano-Frankiwsk, die auch IDPs beteiligt. Das Zusammenspiel von Organisationen und Personen demonstriert dabei eine Zivilgesellschaft, die fähig ist, auch auf außergewöhnliche Herausforderungen zu reagieren.
Der Name Co-HATY ist kein Zufall. Der Begriff „Haty“ bezieht sich auf die Bezeichnung für traditionelle ukrainische Bauernhäuser, wie sie etwa der ukrainische Maler
Ilya Repin in seinem 1880 entstandenen Gemälde „Hata“ festgehalten hat. Haty bezeichnet dabei weniger das Haus an sich als vielmehr ein Lebensgefühl; so etwas wie ein Heim oder eine Heimat, manchmal auch nur den zentralen Raum eines Hauses, in dem sich der große Ofen befindet. „Hata“ ist jede*r Ukrainer*in ein Begriff, der viele Assoziationen auslöst. Und Co-HATY ist somit eine Kombination aus Heimen, ein gemeinsames Zuhause-Gefühl. Das wäre nun also das Mindeste, das Existenzminimum, das Geflüchteten vorläufig zur Verfügung gestellt werden kann.
Metalab sieht das bereits fertiggestellte Gebäude als Pilotprojekt und bereitet derzeit weitere vor, darunter den Umbau einer leerstehenden Schule und eines Kindergartens in Iwano-Frankiwsk oder den Umbau eines Wohnheims in Zinkivtsi. Denn sicher ist: Wohnraum für Binnengeflüchte wird langfristig benötigt, die Wohnung für das Existenzminimum wird uns durch das 21. Jahrhundert begleiten.
Text: Peter Knoch
Fotos: Anastasia Kubert, Bohdan Volynskyi, Anastasiya Ponomaryova
Zum Thema:
metalab.space
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Heike Johenning | 22.09.2022 18:57 UhrToller Beitrag
Vielen Dank für diesen instruktiven und interessanten Beitrag!