Obdachlosigkeit ist ein globales Problem, das auf lokaler Ebene diskutiert und gelöst werden muss. Mit ihrem Buch „Who's Next. Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“, das sie anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Architekturmuseum München herausgeben, wollen Museumsdirektor Andres Lepik und Kurator Daniel Talesnik das Wissen aus unterschiedlichen Fachgebieten und Teilen der Welt vernetzen. Um es gleich vorwegzunehmen: Jede einzelne der 271 Seiten ist es wert, gelesen zu werden. So dicht sind die Fakten und Zahlen gesetzt, so tief blicken die Texte in historische wie aktuelle Entwicklungen, so verschieden sind die Ansätze der wissenschaftlichen Aufsätze, so kritisch nehmen ortskundige Autor*innen einzelne Metropolen in den Blick, definieren Begriffe und befragen Protagonist*innen.
Jocelyn Froimovich denkt in ihrem Essay „Vom Recht in der Stadt zu schlafen“ zum Beispiel darüber nach, warum das Bedürfnis des Menschen, sich mit den Funktionen seines Körpers in der Öffentlichkeit zu befassen, Picknickplätze, Trinkbrunnen und Toilettenanlagen hervorgebracht habe, doch kaum öffentliche Orte zum Schlafen. Und sie stellt fest, dass die Stadtmöblierung eher so konzipiert sei, dies zu verhindern. In seinem Beitrag „Obdachlosigkeit und Wohnungswesen“ definiert David Madden Obdachlosigkeit als politisches Problem, hervorgerufen durch die Beziehung zwischen Bevölkerung, Eigentum und Staat. Er widerlegt damit jegliches Klischee, dass Obdachlosigkeit selbst verschuldet sei.
Welchen Beitrag gute Planung von Architekt*innen für Notunterkünfte und den Alltag von obdachlosen Menschen leisten kann, zeigen 23 gebaute Projekte aus Europa und den USA. Und weil es nicht nur wichtig ist, zu verstehen, worüber man spricht, sondern wie man das tut, haben Student*innen der TU München ein Glossar zu Begriffen wie Housing First, Asoziale, Redlining und Skid Row erarbeitet. Das allein ist schon Stoff genug für ein Buch. Doch dann folgen die Beiträge über New York, San Francisco, Los Angeles, São Paulo, Moskau, Mumbai, Shanghai und Tokio, in denen die Autor*innen erfolgreiche und unterlassene Versuche beschreiben, die Obdachlosigkeit zu bekämpfen.
Aya Maceda und James Carse erzählen von den Millionen Dollar, die die Stadtverwaltung von New York jährlich für Übergangs- und Dauerquartiere ausgibt, ohne dass sich die Zahl der Obdachlosen je verringerte. Valentina Rozas-Krause und Trude Renwick berichten von San Franciscos Kampf mit den Tech-Firmen, Zairong Xiang und Elena Vogman vom Leugnen der Obdachlosigkeit in Shanghai. María Esnaola Cano beschreibt, warum es in Los Angeles, wo im Jahr 2020 mehr als 66.000 Menschen auf der Straße lebten, im Vergleich zu New York kein Recht auf Unterkunft gibt, die die Stadt zur Verfügung stellen muss. Schließlich berichten Stephen Przybylinski und Don Mitchell aus Portland – der ersten Stadt in den USA, die selbstorganisierten Camps den Betrieb auf kommunalen Grundstücken rechtlich ermöglicht.
Immer wieder geht es um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Obdachlosigkeit, um defensive Architektur, um weniger werdende Sozialwohnungen und um Organisationen, die das Leid mit Suppenküchen und Notquartieren zu lindern versuchen und dennoch dabei zusehen müssen wie die Obdachlosenzahlen weiter steigen. Deutlich macht das Buch vor allem, dass räumliches und gesellschaftliches Verdrängen, aber auch finanzielle Hilfen das Problem nicht lösen. Überzeugender kann ein Buch Planerinnen und Planer kaum auffordern, sich des Themas anzunehmen.
Text: Friederike Meyer
Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt
Daniel Talesnik, Andres Lepik (Hg.)
272 Seiten
Architangle, Berlin 2021
ISBN 978-3-96680-018-1
48 Euro
Das Buch ist auch auf Englisch erschienen.
Zum Thema:
Die gleichnamige Ausstellung ist noch bis 6. Februar 2022 im Architekturmuseum der Technischen Universität in der Pinakothek der Moderne in München zu sehen.
Die BAUNETZWOCHE#591 „Wege aus der Obdachlosigkeit“ erscheint am 27. Januar 2022.