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07.10.2021
Buchtipp: Activism at home
Wenn Architekt*innen für sich selbst bauen
Das Bild auf dem Cover ist brav und macht stutzig. Was bitte haben ein Waschbecken, ein Klo und ein paar Topfpflanzen mit Aktivismus zu tun? Bis einem die Szenerie auf Seite 159 wieder begegnet, ist diese Frage fast vergessen – angesichts so vieler spannender, träumerischer und kämpferischer Geschichten über Wohnhäuser von Architekt*innen, die Activism at Home. Architects dwelling between politics, aesthetics and resistance allein schon bis dorthin versammelt. Und danach geht es nochmal über 200 Seiten weiter!
Dieses Buch ist eine Schatztruhe. Hier geht es nicht um die Demonstration guten Geschmacks in Form von Architekt*innen-Homestories. Hier geht es um gebaute Anliegen politischer ökologischer oder sozialer Natur, die eben nicht für Bauherren, sondern von den Entwerfenden in ihrem jeweils eigenen Zuhause umgesetzt wurden. Zusammengetragen haben die Beispiele die beiden Herausgeberinnen Isabelle Doucet und Janina Gosseye im Rahmen zweier Symposien über Häuser von Architekt*innen als Ausdruck von Radikalität und Widerstand im australischen Queensland 2017 und Manchester 2018. Für die 29 Häusergeschichten zwischen Villa und ausgebautem Kastenwagen fand sich jeweils ein anderer Autor oder eine Autorin, was zu einer erfreulichen Frische und Vielfalt an Betrachtungsweisen beiträgt.
Unterteilt in sechs Sektionen werden einige erwartbare und bekannte Beispiele vorgestellt, darunter Bruno Tauts Haus in Istanbul, das Strandhaus E1027 von Eileen Gray im Duett mit Le Corbusiers Cabanon, die Wohnhäuser von Lina Bo Bardi und Paulo Mendes da Rocha oder Günther Domenigs Steinhaus am Ossiacher See. Aber selbst in diesen Fällen eröffnen die Autor*innen oftmals eine neue Perspektive, indem sie sich auf inhaltliche Ambitionen konzentrieren und die „aktivistischen“, teilweise gar utopischen Aspekte der Bauten herausstellen.
Noch viel aufregender als die Klassiker sind weniger bekannte Projekte aus aller Welt – von Chile bis China. Man bedauert zum Beispiel sofort, niemals bei Flora Ruchat-Roncati in ihrem Tessiner Cortile eingeladen gewesen zu sein, einem sensibel auf- und umgebauten Lebens- und Arbeitsort, an dem sich in den 1970er Jahren für einige Zeit eine kreative, politisch und künstlerisch engagierte Gemeinschaft aus Bewohner*innen und Gästen bildete. Wäre Ralph Erskines The Box heute kein kleines Museum, wäre es eine gute Unterkunft beim nächsten Skandinavienurlaub gewesen. Stattdessen also vielleicht das Sommerhaus des schwedischen Möbeldesigners Bruno Mathsson in Frösakull? Ein bestechend einfaches Haus aus Stahl, Holz und Acrylpaneelen, das Mathsson für sich und seine Frau baute, um ihrer Lebenseinstellung als Nudisten und Naturalisten gebauten Ausdruck zu verleihen. Alles ist auf ein Dasein in und mit der Natur ausgelegt, es gibt keine Türen, eine transluzente Decke, einen frei verschiebbaren Herd und einen geschützten Hof zum Sonnenbaden und Schlafen unter freiem Himmel.
Bliebe noch das Rätsel der Topfpflanzen auf dem Cover und deren Bezug zu revolutionären Themen zu lösen. Sie stehen im House X in der Euston Road in London, nicht allzu weit von der Architectural Association AA am Bedford Square entfernt. Ab 1972 lebte dort die Familie von Elizabeth und Alvin Boyarksy, der lange und prägende Jahre der AA als Chairman vorstand. Er machte sein Zuhause zu einer Art halböffentlicher Hochschul-Außenstelle, in der Colin Rowe, John Hejduk, Bernard Tschumi, Peter Cook, Zaha Hadid und andere ein und ausgingen. Als ein Entwurfsprojekt von Coop Himmelb(l)au ein Nachbargebäude zum Gegenstand hatte, wurde House X kurzerhand zum „base camp“ des Entwurfsstudios. Lehrenden und Studierenden stand das das private Heim gemeinsam mit den illustren Dinner-Gästen als „Plattform und Vehikel“ für Austausch und Debatten über die Zukunft der Architektur zur Verfügung.
„What if architecture could change the world?” pflegt der dänische Stadtplaner Jan Gehl am Beginn seiner Vorträge gerne zu fragen. Genau dieser Gedanke steigt im Laufe der Lektüre dieses Buches auf. Was wäre wenn …? Die Architekt*innen in Activism at home hatten eine Mission, wilde Ideen vom Wohnen, idealistische, verrückte, anarchische Gedanken zur Verbesserung der Welt oder der Gesellschaft, denen sie mit ihren Mitteln Form gaben. Weil sie diese Konzepte nicht für andere umsetzen konnten oder wollten, taten sie es für sich – sozusagen im Selbstversuch. Das ist teilweise anrührend, oft anregend und im besten Falle Anstoß, auch heute mal wieder kräftig über den Tellerrand hinauszudenken.
Text: Katrin Voermanek
Activism at Home. Architects dwelling between politics, aesthetics and resistance
Isabelle Doucet und Janina Gosseye (Hg.)
384 Seiten
Englisch
Jovis Verlag, Berlin 2021
ISBN 978-3-86859-633-5
42 Euro
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Bruno Tauts Haus auf dem Bosporus, 1938
Eileen Gray – mit Le Corbusier in ihrem Nacken
Peter Hamiltons Bodhi Farm House, ein hippie-eskes Selbstbauprojekt der späten 1970er in Australien
Günther Domenigs Steinhaus – „gebautes Ich“
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