Das Bild vom Menschen als Sammler lässt an jene Zeiten zurückdenken, als Wurzel und Beere noch auf dem täglichen Speiseplan standen. Notgedrungen wurde die Nahrung gesammelt, später in der Geschichte tauchten andere, freiere Arten des Sammelns auf. Heute kennt man Sammlungen von ungezählten Dingen wie Briefmarken, Schmetterlingen, Vasen, Kunstobjekten oder Möbelstücken – sie alle, ob Hobby- oder Wissenschaftssammlung, sind bestimmt durch eine individuelle Beziehung des Sammlers zu den gesuchten oder gefundenen Objekten.
Sammeln. Dinge. Entwerfen. In einer systematischen, fundierten Untersuchung erfahren Interessierte in dem neuen Buch der Architekturtheoretikerin Eva Maria Froschauer, was die menschliche Affinität zum Sammeln und zum Gesammelten für den Entwurfsvorgang in der Architektur bedeutet kann. Die Architekturgeschichte kennt viele bedeutsame, über Jahrhunderte entstandene Muster-, Vorbild-, und Objektsammlungen. In ihrer Forschungsarbeit Entwurfsdinge. Vom Sammeln als Werkzeug moderner Architektur geht es der Autorin jedoch darum, den Prozess des Sammelns und die Materialität von Sammlungen mit dem entwerferischen Vorgang ausgewählter Fallbeispiele sowohl klassisch moderner als auch zeitgenössischer Architektur zusammenzuführen. Konturiert wird dabei das Sammeln als eine spezifische Technik, deren Produktivität und Nützlichkeit beim Entwerfen stets im Vordergrund der Erzählung bleiben.
Gleich zu Beginn der Lektüre zeichnet die Autorin ein überraschendes Bild: Was sagt die Sammlung vielzähliger stacheliger Kakteen auf einem scheinbar eigens dafür montierten Sims in dem sonst so nüchternen Dessauer Wohnhaus des Bauhaus-Direktors über Gropius als Architekten aus? Oder wie kann Alvar Aaltos Aussage über das Entwerfen – „Keine Philosophie, nur einen Kilometer Linien am Tag!“ – im Hinblick auf das Sammeln, Ordnen, Verwerfen oder Korrigieren im Entwurfsprozess gedeutet werden? Froschauer bietet die Interpretation des Architekten als „Homo Collector“ – ein ordnendes und schaffendes Wesen, das auf einer Vorstellung des Kultursoziologen Justin Stagls beruht, in der der Mensch sich einen lebenswerten Kosmos erst durch Aneignung der Welt schafft.
Es folgen sechs Fallbeispiele: Die Exkurse führen zu Ernö Goldfinger, Renaat Braem, Rudolf Olgiati und Aldo Rossi sowie AFF Architekten und Vogt Landschaftsarchitekten. Sie verdeutlichen die Transformationsvorgänge von der Sammlung zum architektonischen Entwurf. Froschauer erläutert, wie das Haus Ernö Goldfingers in London – randvoll mit Kunst-, Architektur-, und Alltagsobjekten – im Laufe der Jahre zu einer bewohnten Collage wurde und somit gleichzeitig Sammlung und Entwurf ist. Aldo Rossis Sammlung hingegen beschränkte sich zwar auf wenige Objekte. Der Architekt variierte und wiederholte jedoch einzelne Motive immer wieder und machte sie so zu einem als eigene Sammlung lesbaren Motivschatz. Oder die beinahe sentimentalen objets trouvées von AFF Architekten: Ihre Sammlung an zufällig auf Reisen, virtuellen oder echten Trödelmärkten Gefundenem wurde 2011 erstmalig für eine Sammlungswand in der Ausstellung „In Love, To:“ im Berliner DAZ überarbeitetet. So systematisiert, schufen die Objekte jenseits von Plan und Modell einen Zugang zur Entwurfsarbeit des Büros.
Mit 507 Seiten Länge und gut 300 Bildern wendet sich die Habilitationsschrift Froschauers an ein interessiertes Publikum, das Lust daran hat, sich eingehend mit den kulturellen Bedingungen des Entwerfens auseinanderzusetzen. Spannend ist dabei nicht zuletzt der zeitliche Bogen von der klassischen Moderne zum Jetzt. Deshalb ist es ein schönes Gimmick, dass zusätzlich zum eigentlichen Buch zwei Interviews mit AFF Architekten sowie Günther Vogt als PDF zum Download verfügbar sind. Sammeln ist eben auch heute noch eine hochgradig relevante Kulturtechnik für Architektinnen und Architekten.
Text: Kim Gundlach
Entwurfsdinge. Vom Sammeln als Werkzeug moderner Architektur
Eva Maria Froschauer
507 Seiten
Birkhäuser, Basel 2019
ISBN 978-3-0356-1611-8
69,95 Euro