An welchen Orten sind wir geboren und aufgewachsen? Wie haben uns diese Räume geprägt? Immerhin erlauben die ersten Wohnumgebungen im Kindesalter in der Regel wenig individuelle Wahlfreiheit, sondern sind Ausdruck des sozioökonomischen Kontexts und Geschmacks der Eltern. Die avantgardistischen Wohnbauten der Moderne stellen dabei ein ganz eigenes Ambiente für farben- und lebensfrohe Kindheitserinnerungen dar.
Würde ein Kind freiwillig so einen radikalen Lebensmittelpunkt wählen? Auf jeden Fall haben hier junge Menschen gelebt, gespielt und gelernt, von denen nicht wenige noch leben und berichten können. Mit ihrem jetzt erschienenen Buch Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden widmen sich Julia Jamrozik und Coryn Kempster in Zusammenarbeit mit der University at Buffalo (New York) diesen besonderen Erfahrungen.
Im Sommer 2015 besuchten die Autorinnen vier berühmte Wohnorte und sprachen mit deren ursprünglichen Bewohner*innen. Dabei konnten sie auf Basis von Interviews eine Fülle heiterer und ergreifender Erinnerungen dokumentieren. Festgehalten wurden die ganz persönlichen, unverwechselbaren und doch sehr vergänglichen Eindrücke der Befragten, die oft schon lange anderswo leben.
Die Autor*innen wählten eine breite Palette an damals gängigen Wohnformen, vom Reihenhaus über die Villa bis zur sogenannten Wohnmaschine. Für Rolf Fassbaender blieb der Balkon seines Zimmers eines der 1927 von J. J. P. Oud. entworfenen Reihenhäuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung unvergessen. Dort legte er im Sommer seine Matratze hinaus, sodass er unter freiem Himmel schlafen konnte. Während für Helga Zumpfe im Haus Schmicke (Löbau) die Freundschaft der Familie mit dem Architekten Hans Scharoun in Erinnerung blieb, waren es für Ernst Tugendhat die Erlebnisse im Garten des gleichnamigen Hauses von Mies van der Rohe in Brünn. Und dann werden dank Gisèle Moreau noch die Wandlungen einer langen Wohndauer sichtbar. Dem Wohnort ihrer Jugend, die Unité d'Habitation von Le Corbusier, hält sie bis heute die Treue.
Die Architekt*innen glaubten an das transformatorische Potential ihrer Architektur, doch die Chancen und Grenzen ihrer Theorien dienten dem Buch bewusst nicht als Grundlage. Stattdessen entstand eine neuartige Sammlung relativ ungefilterter Impressionen, ergänzt mit Grundrissen samt privater Kommentaren sowie expressiven Bildstrecken aus den Interviews. Die Schilderung aus der Sicht der Nutzer*innen sei eine bauhistorisch noch unorthodoxe Herangehensweise, betonen die Herausgeberinnen. Das lebhafte Narrativ des Buchs vermittelt daher einen neuen Blickwinkel jenseits der etablierten Haltung einschlägiger Architekturkritiken. So entstand eine lesenswerte Momentaufnahme eines oft unbeschwerten Lebensabschnitts. Möglicherweise werden einem so selbst Zusammenhänge von kindlichem Wohnumfeld und charakterlicher Prägung bewusst.
Text: Marius Birnbreier
Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden
Julia Jamrozik und Coryn Kempster (Hg.)
Deutsch
320 Seiten
Birkhäuser Verlag, Basel 2021
ISBN 9-783-0356-2167-9
40 Euro
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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lassie | 11.03.2021 10:48 Uhrkinder der moderne
warum fehlt das Huus Schröder von Rietveld?
der Entwurf fußt auf der Raumaufteilung für die Kinder und die Bauherrin mit verschiebbaren Elementen für Tag- und Nachtnutzung und wurde durch diese Anforderung zu einer Ikone der Moderne. Idealtypischer könnte Kinder der Moderne nicht dargestellt werden. So bleibt etwas romantische Nostalgie, für wen?