Es gibt Bücher, die rauben den Lesern sprichwörtlich den Atem. Das eben erschienene Avant-Garde as Method. Vkhutemas and the Pedagogy of Space 1920-1930 von Anna Bokov ist ein solches Buch. Wer den 624 Seiten dicken Band über die berühmteste Kunsthochschule der Sowjetunion erstmals durchblättert, wird nicht nur von der reichen Bildauswahl und der offensichtlichen Forschungsleistung der Autorin beeindruckt. Nein, es ist vor allem der intensive Geruch des Buches, der die Leser*innen geradezu erschlägt. Grund dafür ist das viele Schwarz, das die Zürcher Gestalter des Büros Bonbon verwendet haben. Alle Seiten, auf denen Bilder präsentiert werden, sind tiefschwarz; alle Seiten mit Text dagegen weiß.
Ist diese radikale Kontrastierung vor allem ästhetische Verbeugung vor dem historischen Gegenstand? Oder auch metaphorisch zu deuten? Aus westlicher Perspektive liegt Letzteres nicht ganz fern, denn die WChUTEMAS (Wysschije Chudoschestwenno Technitscheskije Masterskije, auf deutsch: Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten) genoss über Jahrzehnte nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdiente. Sie stand und steht immer noch im Schatten, das wenige erhaltene Material war lange in den Tiefen verschiedener Archive verborgen. Aus hiesiger Perspektive macht Bokov, aufbauend auf einschlägiger Spezialliteratur, lange vergessenes Bildmaterial zugänglich und erhellt es durch ihren Text.
Die WChUTEMAS wurde 1920 gegründet und stand explizit im Dienst der kommunistischen Sache. Ihr Ziel war es, „hochqualifizierte Künstler-Praktiker für die moderne Gesellschaft“ auszubilden, wie Lenin formulierte. Grundkurse mit abstrakten Formübungen, ganz ähnlich dem Vorkurs im Bauhaus, spielten dabei eine wichtige Rolle und tauchen dementsprechend prominent im Buch auf. Massengesellschaft und Avantgarde waren an der WChUTEMAS kein Widerspruch, sondern geradezu essenziell. Die Schule erhob keine Studiengebühren und war explizit auch für weniger Privilegierte offen, denen freilich nicht selten künstlerisches Talent oder die notwendigen akademischen Grundlagen fehlten. In den zehn Jahren ihres Bestehens waren zu jedem Zeitpunkt mehr als 2.000 Studierende eingeschrieben – weitaus mehr als etwa im Bauhaus oder der bis dahin größten Kunstakademie Europas, der École des Beaux-Arts in Paris, wo gut 1.000 Studierende zu finden waren.
So wenig elitär die WChUTEMAS war, so wenig war sie auf ein einheitliches avantgardistisches Programm geeicht. Sie war zwar ein Ort, an dem viele wichtige Avantgardist*innen lehrten, da sie mit der Revolution sympathisierten und die einmalige Chance sahen, ihre ästhetischen Ideen massenwirksam werden zu lassen. Doch nicht nur moderne Künstler*innen wie Suprematisten, Konstruktivisten und Rationalisten rangen untereinander um die künstlerische Deutungshoheit in der neuen Gesellschaft. Auch klassisch akademische Künstler*innen lehrten hier. Als die ehemaligen Bauhäusler Hinnerk und Lou Scheper die Schule besuchten, an der sie unterrichten sollten, waren sie hochgradig irritiert über die undurchschaubare Vielfalt der Haltungen, die sie vorfanden. In einem offenen Brief gaben sie der Schule bei ihrer Rückreise in den Westen mit: „Sie können nicht Aktzeichnen betreiben und parallel dazu einen Stuhl für den Massengebrauch entwickeln.“ Vielleicht, schließt die Autorin ihr Buch, war es „gerade die dysfunktionale Atmosphäre andauernder Konkurrenz, die zu den ästhetischen Leistungen der Schule führte“.
Wie das Bauhaus so wurde auch die WChUTEMAS ein Opfer des politischen Extremismus. Die Stalinisten schlossen die Schule Anfang 1930 und brandmarkten sie als „formalistisch“ und „trotzkistisch“, viele Studenten verloren im Krieg ihr Leben, viele Lehrende wurden gewaltsam marginalisiert, das Archiv ging verloren. Während die Bauhäusler aus dem Exil heraus fleißig an ihrem Nachruhm strickten, war das Sprechen über die WChUTEMAS bis in die 1960er Jahre hinein politisch tabuisiert. Umso wichtiger ist dieses fulminante Buch, das einem nicht russisch lesenden Publikum erstmals einen umfangreichen, archivbasierten, detaillierten und zugleich gut strukturierten Einblick in eine der wichtigsten Institutionen der europäischen Moderne erlaubt.
Text: Gregor Harbusch
Avant-Garde as Method. Vkhutemas and the Pedagogy of Space 1920–1930
Anna Bokov
624 Seiten
Park Books, Zürich 2020
ISBN 978-3-03860-134-0
58 Euro