Es kommt gar nicht so häufig vor, dass die äußere Form eines Gebäudes tatsächlich präzise Hinweise auf sein Inneres gibt. Dem Pariser Büro Jean-Pierre Lott Architecte ist dies jedoch kürzlich in Straßburg auf vorbildliche Weise gelungen. Zusammen mit seinem Team konnte er dort im vergangenen Herbst die neue Bibliothek der Universität fertigstellen. Und deren kurvige Hülle findet in einem ebenfalls vielfach geschwungenen Atrium ihre Entsprechung.
Das Gebäude steht im Osten der Stadt auf halbem Weg zur nahen deutschen Grenze. Direkt am Boulevard de la Victoire bildet es das neue Aushängeschild der Universität. Über sieben Geschosse hinweg wurden hier neben der Bibliothek auch öffentliche gastronomische Angebote sowie vielseitig nutzbare Lern- und Arbeitsräume versammelt. Im Stadtraum klar erkennbar sind dabei nur die Hauptgeschosse. Die restlichen Flächenanteile – insgesamt werden rund 12.000 Quadratmeter geboten – verteilen sich auf zwei Attikageschosse und drei Zwischenebenen, die in das großzügige Erdgeschoss eingestellt sind.
Die tiefen Grundrisse werden von einem gebäudehohen Atrium bestimmt. Dieses wirkt, als seien hier die Geschossdecken in Schwingung geraten, als bildeten sinusförmige Wellen vielfache Interferenzen. Mal schmal, mal breit, stellt sich ein schluchtartiger Raumeindruck mit von Stockwerk zu Stockwerk stark variierenden Perspektiven ein. Ausladende Rampen und Treppen mit vielen weiteren Biegungen tun ihr Übriges. Alle Arbeits- und Freihandbereiche öffnen sich zu diesem Raum.
Großes Augenmerk legten die Architekt*innen auf die klimatische Performance der neuen Bibliothek. Insbesondere wurde der Licht- ebenso wie der Wärmeeintrag optimiert. Einerseits dringen dank des Atriums Sonnenstrahlen bis hinunter ins Erdgeschoss, anderseits regulieren die Metallpaneele der Fassade abhängig vom Sonnenstand die Erwärmung des Volumens. Ist Letzteres im Winter erwünscht, spenden die Paneele im Sommer Schatten. Die Nettobaukosten betrugen rund 22 Millionen Euro. (sb)
Fotos: Christophe Bourgeois
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Dietrich W. Schmidt | 01.02.2023 14:01 UhrUnökonomische Verausgabung
Man erkennt die gelungene Symbiose von Amöbe und Rechteck, eine durchaus großzügige Kombination von ungezwungenem Schwung und notwendiger orthogonaler Ordnung - Gefühl und Vernunft gewissermaßen. Das Straßburger Bibliotheksgebäude zeigt quasi "zwei Seelen - ach in seiner Brust", inkorporiert also menschlich-faustische Qualitäten. So kann es als verklausulierte Hommage an den Straßburg-Reisenden Goethe gelesen werden. Andererseits entspricht es so gar nicht rechnendem deutschen Ingenieursgeist, der mit geringstem Aufwand maximale Wirkung erzielen will. Vielmehr handelt es sich hier nach Georges Bataille (1897-1962) um eine "unproduktive Verausgabung", die über den "notwendigen Minimalverbrauch zur Erhaltung des Lebens" hinausgeht. Genuss nicht nur am Lesen der Bücher, sondern auch an der Raumästhetik ihres Aufbewahrungsortes: Savoir-vivre.