Man kann natürlich immer erstmal meckern: 49 Euro für ein Buch, und dann sind nur unrealisierte Projekte darin versammelt? Wozu sollte man sich denn mit dem beschäftigen, was nicht gebaut wurde – ist das nicht reine Zeitverschwendung? Ist es nicht, wie Was wäre wenn/What If mühelos zeigt. Das Buch erschien anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, die aktuell noch im Schweizerischen Architekturmuseum SA M in Basel zu sehen ist.
Allerdings funktioniert das Buch auch prächtig ohne Ausstellung. Es beinhaltet 23 Entwürfe aus der ganzen Schweiz, die allesamt Spuren hinterlassen haben, ohne dass sie jemals so wie ursprünglich geplant umgesetzt worden wären. Die Mehrzahl ist dabei überhaupt nie gebaut worden, wie etwa der Völkerbundpalast von Le Corbusier und Pierre Jeanneret (1927–29), das Neue Schauspielhaus in Zürich von Jørn Utzon (1963–73) oder das kleine, aber heftig umstrittene Kunstprojekt Nagelhaus in Zürich von Caruso St John und Thomas Demand (2007–10). Die Gründe für das Scheitern der Ideen sind so vielfältig wie die Projekte selbst in ihren höchst unterschiedlichen Maßstäben und Epochen.
Etliche Projekte wurden in Volksabstimmungen abgelehnt. Deshalb verweisen die beiden Herausgeber und Kuratoren Andreas Ruby und Andreas Kofler in ihren Essays auf die starke Präsenz der Basisdemokratie bei den Architekturentscheidungen in der Schweiz. Wobei aus deutscher Sicht anzumerken wäre, dass das Verhältnis von gebauter zu gedachter Architektur hierzulande kaum anders sein dürfte. Schließlich produziert jeder Wettbewerb automatisch sehr viel mehr Unrealisiertes als Gebautes.
Es liegt im Wesen des Wettbewerbs, dass meist die radikaleren und mutigeren Ideen in einem auf Konsens ausgerichteten Wettbewerb auf der Strecke bleiben. Ruby beschreibt insofern die gebaute Architektur als „Spitze des Eisbergs“. Man folgt den beiden Herausgebern gerne bei ihrem Blick „auf den schlafenden Riesen unter der Oberfläche“, der „möglicherweise die Essenz von Architektur noch mehr verkörpert als das, was von ihr greifbare Gestalt annimmt“.
Die 23 ausgewählten Projekte werden in vier Kategorien präsentiert. „Verloren“ sind Wettbewerbsverlierer wie der erwähnte Völkerbundpalast in Genf oder eine wunderbar Boullée-artige Bibliothek von Luigi Snozzi und Bruno Jenni. „Verneint“ sind in Abstimmungen abgelehnte Ideen wie das Nagelhaus oder die Zürcher Wald-Stadt von Werner Stücheli – ein beeindruckender, freistehender Ring aus Wohnhochhausriegeln von 1971. „Versackt“ sind die irgendwo auf der Strecke liegen gebliebenen wie ein bizarres 381-Meter-Hotelhochhaus von Morphosis (20159 oder die Bundeshauserweiterung von Mario Botta in Bern (1991–93). „Verändert“ versammelt Projekte, die sich in den Mühlen der Realisierung drastisch verändert oder komplett neu geplant wurden wie das Kunsthaus Glarus von Hans Leuzinger (1942–52) oder Jean Nouvels nie umgesetzter Vorschlag Megalou (1992–2001) für das Sulzerareal in Winterthur.
Jedes Projekt wird mit einer knappen Geschichte sowie Quellen- und Archivmaterial umfassend vorgestellt. Das sind vor allem Entwurfszeichnungen, manchmal Modellfotos oder Protestplakate (vom Galgenstrick bis zu einer Zeichnung, die Jean Nouvel als Nosferatu zeigt) sowie Zeitungsausschnitte. Wobei anzumerken ist, dass eine bessere Auswahl der Zeitungsartikel den Verlauf der Diskussionen wohl auch besser nachvollziehbar gemacht hätte. Zumal einige Berichte rätselhafterweise so unglücklich abgeschnitten wurden, dass sie nicht in voller Länge lesbar sind. Warum das so ist, bleibt angesichts des üppig bemessenen Umfangs des Buchs unklar.
Aber auch so eröffnet das Buch das herrliche Panorama einer alternativen Schweizer Architekturlandschaft, die es so nie gab – die aber gleichwohl ein wichtiger Humus für die hohe Qualität der tatsächlich gebauten Architektur war, entweder als hartnäckiger Konkurrent im Wettbewerb oder als Diskussionsgrundlage und Projektionsfläche, die eine demokratische Gesellschaft für ihre Entscheidungsfindung über die gemeinsame, gebaute Umwelt benötigt. Ob man deswegen, wie Ruby, gleich von „baukulturellen Zombies“ sprechen muss, die „lokale Architekturdebatten bis heute durchgeistern“, sei dahin gestellt.
Zuletzt noch ein Wort zur wunderbaren Grafik, die das Thema des Buchs auf geniale Weise aufgreift und umsetzt. Da wickeln Claudiabasel das Buch zuerst in einen besonders schlichten, grauen Pappkarton mit Schweizer Broschurbindung, der dann aber einen ungewöhnlichen Bindfadenverschluss erhält und dadurch ein wenig wie eine alte Bauakte daherkommt, die man erst aufschnüren muss. Im Inneren wählten die Grafiker*innen drei verschieden geschnittene Papierformate, die auf dem sogenannten Postquart-Format aufbauen. Bis zur Vereinheitlichung durch die DIN-Formate war dieses Format in der Schweiz gebräuchlich. Die Grafik verbindet damit ihre eigene What-If-Frage: „Was wäre, wenn die Schweiz die DIN-Formate nie eingeführt hätte?“ Also: Dieses hervorragend durchdachte Buch lohnt sich sehr, vom Aufschnüren des Pappcovers bis zum Lesen der letzten Seite.
Text: Florian Heilmeyer
Was wäre wenn/What If. Ungebaute Architektur in der Schweiz/Unbuilt Architecture in Switzerland
Schweizerisches Architekturmuseum, Andreas Kofler und Andreas Ruby (Hg.)
Gestaltung: claudiabasel
Deutsch/Englisch
358 Seiten
Christoph Merian Verlag, Basel 2023
ISBN 978-3-85616-997-8
49 Euro
Die Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum SA M in Basel läuft noch bis zum 14. April 2024.