Die industrielle Revolution brachte eine Verstädterung mit sich, die im 20. Jahrhundert den gesamten Globus erfasste. In diesem beschleunigten Prozess sehen Maria Claudia Clemente und Francesco Isidori, Inhaber*innen des römischen Architekturbüros Labics, den Grund für einen Verfall des öffentlichen Raums: Gegenüber dem dringlichen Erfordernis der Wohnraumversorgung habe die Gestaltung von Stadträumen an Bedeutung verloren.
Unter Verweis auf die Untersuchungen von Pier Vittorio Aureli merken die Autor*innen in ihrer Publikation The Architecture of Public Space an, dass die Vernachlässigung der öffentlichen Sphäre einem neoliberalen Zeitgeist entspreche. Dies allein böte Anlass zur kritischen Beschäftigung. Überdies stellen sie fest, dass mit der Aufmerksamkeit für die öffentliche Sphäre zugleich das Wissen um deren architektonische Gestaltung geschwunden sei. Bei ihrer Suche nach Gegenbeispielen in der italienischen Architekturgeschichte gehen sie systematisch vor.
Zweiunddreißig Stadtraumarchitekturen versammeln Clemente und Isidori im Buch, von der Domtreppe im sizilianischen Noto bis zum Ponte Vecchio in Bassano del Grappa. Zehn Kategorien zwischen Portikus und Rahmung zugeordnet, präsentieren sie diese „typomorphological solutions“ anhand großformatiger Zeichnungen und Fotos. Wenngleich der Schwerpunkt auf der frühen Neuzeit liegt, ist mit dem Palazzo della Ragione in Mailand auch ein Beispiel aus dem 13. Jahrhundert vertreten. Keine hundert Jahre alt ist hingegen die Galleria San Federico in Turin, auch wenn ihre Architektur älteren Vorbildern wie der Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II folgt.
Vor fünf Jahren legten Clemente und Isidori mit Structures bereits ein ähnliches Registerwerk vor. Darin präsentierten sie Trag- und Erschließungs- ebenso wie Stadtstrukturen. Zudem sind sie nicht die einzigen Architekt*innen, die sich an einer Katalogisierung und Kategorisierung ihrer Umwelt versuchen. Etlichen dieser Werke ist The Architecture of Public Space durch die Bebilderung mit vielfach menschenleeren Aufnahmen verbunden. In einem Buch über den öffentlichen Raum ist das besonders bedauerlich.
Gegenüber vergleichbaren Katalogen aber ist die Konzentration auf ein klar umrissenes Thema hervorzuheben. Lob verdienen auch die Bedienungshinweise der Autor*innen: Ausführlich weisen sie auf die Unzulänglichkeiten einer jeden Kategorisierung hin und merken an, dass die vorgestellten Beispiele nicht ungeachtet von Ort und Zeit Anwendung finden könnten. Anerkennung verdienen Clemente und Isidori schließlich auch für das Zutrauen, das sie der Wirkmacht der eigenen Profession entgegenbringen.
Schon vor Jahrzehnten haben Autor*innen wie Richard Sennett oder Jürgen Habermas konstatiert, dass ein Wandel oder gar Verfall des öffentlichen Lebens Ursachen habe, die jenseits von Stadt und Architektur liegen. Mithin erscheint es fraglich, ob diesen Herausforderungen durch städtische Stufenfolgen oder Loggien beizukommen ist. Immer heißere Sommer und zunehmende Extremwetterfälle lassen das Buch dennoch lehrreich erscheinen, gerade für Leser*innen diesseits der Alpen. Viele öffentliche Räume in Italien bieten sich als Vorbild für eine Klimaanpassung an, die in den Städten der nördlichen Breiten noch zu leisten ist.
Text: Achim Reese
The Architecture of Public Space
Labics (Maria Claudia Clemente, Francesco Isidori)
Englisch
486 Seiten
Park Books, Zürich 2023
ISBN 978-3038603115
58 Euro
Zum Thema:
Mehr zu Büchern über öffentliche Räume im BookChat bei Baunetz Campus.