Als „les trente glorieuses“ bezeichnet man in Frankreich die drei Jahrzehnte zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der 70er. In den Umlauf gebracht hatte die Bezeichnung der Ökonom Jean Fourastié, der in seinem Buch „Les trente glorieuses ou la révolution invisible de 1946 á 1975“ bereits im Jahr 1979 die Ära bilanzierte.
Ein nicht zuletzt durch die Automobilindustrie gestiegener Lebensstandard und damit einhergehend die Einführung einer dritten und schließlich vierten Urlaubswoche, die allgemeine gesellschaftliche Transformation und ein staatlich durchexerzierter Dirigismus auf dem Architektursektor, der die „grands projects“ und die Urbanisierung der Großstädte an den Peripherien mit sich brachte, sind typisch für diese Zeit, die mit der ersten Ölkrise ihr Ende fand. Die Bemühungen der Politik, die französischen Urlauber – und damit das erwirtschaftete Geld – im Land zu halten, begannen zunächst in Südfrankreich, mit Projekten wie beispielsweise der riesigen Ferienstadt La Grand Motte.
Mit steuerlichen Anreizen und einer erleichterten Baugesetzgebung erschloss man aber bald auch die Bergregionen in den Alpen für den Wintertourismus. In ihrem kürzlich erschienenen Buch ÉTÉ beschäftigen sich die beiden Münchner Fotografen Sebastian Schels und Olaf Unverzart mit der Architektur dieses gesellschaftlichen Großprojekts. Insgesamt 32 Skiorte haben die Schels und Unverzart in den Jahren 2018 und 2019 mit ihren Plattenkameras dokumentiert. 29 davon befinden sich in französischen Departements, von den Alpes Maritimes über die Haute Alpes, über Isére, Haute Savoie bis hin zum Genfer See. Dazu kommen Ausflüge in benachbarte italienische und schweizerische Regionen. Eine Karte mit der Route ist Bestandteil des Buchs.
Bekannte Namen wie Meribel, Sestiere, Albertville oder Torgon finden sich in der Liste der zwischen 1950 und 1970 erbauten Anlagen. „Die Orte, die für das Buch erstmals ausführlich und nach allen Regeln der Kunst portraitiert werden, sind allesamt Orte mit einer immens langen Naturgeschichte“, schreibt Dietrich Erben in seinem Essay im Buch. Zwar sind einzelne Resorts mittlerweile als „Patrimoine du XXe siecle“ klassifiziert und geschützt. Dennoch ist ihre Bedeutung in der Architekturgeschichte noch nicht in einem größeren Zusammenhang erzählt worden.
Der Blick auf die im Buch vorgestellte Fülle an Bauten macht schnell klar, dass es nicht ausreicht, die Architektur der Ferienresorts auf die Maßstäblichkeit der typischen Großwohnanlage in einer Retortenstadt zu reduzieren. Vielmehr zeigen die Aufnahmen in liebevollen Details oder gut gewählten Ansichten auch den teils kreativen Übermut der Architekten bei ihren Planungen. Die Fotografen lassen sich bei ihren durchkomponierten Aufnahmen, die an Landschaftmalerei denken lassen, nicht auf vorher festgelegte, standardisierte Blickwinkel ein, sondern reagieren vor Ort auf die Situation. Nicht zuletzt geht es ihnen auch um die Relation der Architektur zum alpinen Landschaftsbild.
Aus heutiger Sicht, seit mehr und mehr Skiorte dem Klimawandel unterliegen, erscheinen diese Utopien von einst wie aus der Zeit gefallen. Durch ihren feinsinnigen, fast poetischen Blick setzen Unverzart und Schels den Ideen von damals ein fotografisches Denkmal. Alle Aufnahmen entstanden während der Sommermonate, was den schnee- und menschenleeren Orten einen seltsam entrückten, melancholischen Charakter verleiht. Ohne Frage kommt das Buch zur richtigen Zeit und nimmt das in den letzten Jahren gesteigerte Interesse an Nachkriegsmoderne, Großstrukturen und dem Brutalismus auf. Hier liegt der Aktualitätsbezug des Buches, denn wie soll man mit solchen architektonischen Hinterlassenschaften künftig verantwortungsvoll umgehen?
Text: Tassilo Letzel
ÉTÉ
Sebastian Schels und Olaf Unverzart
184 Seiten
Verlag Kettler, Dortmund 2020
ISBN 978-3-86206-832-6
49 Euro