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22.06.2020

Überm Trampelpfad

Suhrkamp-Haus in Berlin von Roger Bundschuh und Kinzo


Das leere Grundstück hinter der Volksbühne an der Kreuzung von Tor- und Rosa-Luxemburg-Straße war eine der letzten prominenten Brachen im Berliner Scheunenviertel: Acht Linden, vier Pappeln, eine kleine Wiese, an der Ecke ein Kiosk mit „Späti“ und dahinter ein Trampelpfad als Abkürzung zwischen U-Bahnhof und Tramhaltestelle. An der Brandwand lehnte eine Imbissbude. Es wirkte wie ein Dauerzustand. Nun hat die Grundstücksbesitzerin, die Industriebaugesellschaft am Bülowplatz AG (IBAU), hier ein dreiteiliges Gebäude gebaut: In den schlanken, siebengeschossigen Büroflügel entlang der Torstraße ist der Suhrkamp Verlag als Hauptmieter eingezogen, an die Brandmauer in der Linienstraße schließt ein schmales sechsgeschossiges Volumen mit vier großen Wohnungen und einer Galerie im Erdgeschoss an. Zwischen diesen beiden Teilen liegt ein zweigeschossiger Verbindungsflügel mit Ladeneinheiten und einer kleinen Dachterrasse. Der Entwurf des Neubaus mit 6.851 Quadratmetern Bruttogrundfläche stammt von Bundschuh Architekten, die aus ihrem Büro gegenüber direkt auf die Baustelle schauen konnten.

So viel Kontinuität ist selten in Berlin: Die IBAU war als Sanierungsträgerin für die Stadt bereits 1928–1929 für die Bebauung rund um die Volksbühne nach Entwürfen von Hans Poelzig zuständig. Auf acht Stadtblöcken riss man damals die Altbauten ab – es ist ja nicht so, dass die Vorkriegsmoderne den „Kahlschlag“ noch nicht kannte – und ersetzte sie durch Poelzigs schwungvoll die Horizontale betonende, an den Ecken abgerundete Neubauten. Die IBAU wurde nach der Wende neu gegründet und ist heute wieder für die unter Ensembleschutz stehenden Poelzig-Bauten zuständig. Sie will die Gegend um Oskar Kaufmanns Volksbühne als „Kulturviertel“ profilieren. Der Architekt Roger Bundschuh erstellte dafür bereits in den 2000er Jahren erste städtebauliche Studien und realisierte 2010 den dunkelgrauen Felsen gegenüber, das Wohnhaus L40. Auch für das nun bebaute Eckgrundstück gab es bereits eine Vorstudie, jedoch fehlte es lange an einem passenden Nutzer. Als bekannt wurde, dass Suhrkamp nach einem dauerhaften Verlagssitz in Berlin suchte, wurden sich die beteiligten Parteien zügig handelseinig.

Bundschuh Architekten haben es vermieden, das historische Vorbild Poelzigs schlicht nachzuzeichnen. Sie haben es ebenfalls vermieden, dem L40 ein direktes Pendant gegenüberzustellen und damit an der Grenze von Mitte und Prenzlauer Berg eine Art neues Stadttor zu formulieren. Stattdessen argumentiert ihr Entwurf alleine aus den Bedürfnissen der Bauherrin, des Nutzers und dem Gebrauch des Ortes seit 1945. So wurde der Trampelpfad zum Kern einer städteaulichen Idee, die keinen Hof mehr schließt, sondern das dreiteilige Ensemble öffnet und südlich einen kleinen Vorplatz entstehen lässt. Wo zuvor der informelle Weg lag, führt nun eine kleine Passage mit Läden und Gastronomie durch das Bürohaus. Auf diesen durchlässigen Sockel setzte Bundschuh einen Bau aus Beton und Aluminium, der Großstadt ausstrahlt.

Die sechs Obergeschosse des Suhrkamp-Flügels kragen über dem Erdgeschoss zu beiden Seiten aus, bis zu acht Metern an der Gebäudespitze. Nach Norden ist die Aluminiumfassade silbrig glatt. Nach Süden sorgen zwei große, dynamische Knicke für eine Anbindung an die Nachbarhäuser, sie sind Bundschuhs deutlichster Bezug auf Poelzigs Horizontale. Außerdem liegen hier zwei Terrassen vor den Büros. Großformatige, bodentiefe Fenster sorgen innen für ein dramatisches Großstadtpanorama und außen für Reflektionen und Transparenz, insbesondere abends, wenn die Büros der 123 Verlagsmitarbeiter*innen in die Stadt hinaus leuchten.

Für die Innengestaltung der Verlagsräume war das Berliner Büro Kinzo zuständig, das jüngst auch die Berliner Zentralen eines Online-Schuhhändlers sowie eines Stromnetzbetreibers ausgestattet hat. Das Suhrkamp-Projekt stellte sie vor die Herausforderung, auf wenig Platz viele Bücher unterzubringen. Sehr viele Bücher. Um genau zu sein, kam man auf exakt 4.893 laufende Regalmeter, die in die sechs Bürogeschosse einzubringen waren. Kinzo machte aus der Not eine Tugend und aus den Büchern mit ihren farbigen Rücken das „Rückgrat“ des gesamten Entwurfs. Als fortlaufende Wand winden sich nun die Regale durch alle Etagen und entlang einer inneren Treppe an der Gebäudespitze auch in die Höhe. Die kleinen, ruhigen Arbeitszimmer der Lektoren liegen nach Norden zur Straße, nach Süden sind die anderen Arbeitsplätze als offene Bürolandschaft gestaltet, umrahmt und immer wieder anders unterteilt durch die Bücherwände. In der spitzwinkligen nordwestlichen Gebäudeecke gibt es geschossweise wechselnd Besprechungsräume und Teeküchen. Durch 2,70 x 6,10 Meter große Fenster öffnet sich hier der Blick auf das L40, die Torstraße und – der Schrägstellung der Ecke sei dank – auch zum Fernsehturm. (fh)

Fotos:
Laurian Ghinitoiu, Sebastian Dörken


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Zu den Baunetz Architekt*innen:

KINZO


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Ansicht von Südwesten: das Suhrkamp-Haus links, der schmale Wohnturm rechts.

Ansicht von Südwesten: das Suhrkamp-Haus links, der schmale Wohnturm rechts.

Blick von der Torstraße auf die Schmalseite des Büroflügels

Blick von der Torstraße auf die Schmalseite des Büroflügels

Eine öffentliche Passage führt durch das Vorderhaus zur Tram-Haltestelle.

Eine öffentliche Passage führt durch das Vorderhaus zur Tram-Haltestelle.

Im Inneren: Ein Haus voll bunter Bücher.

Im Inneren: Ein Haus voll bunter Bücher.

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