Teddy Cruz und Fonna Forman arbeiten an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, in der Gegend um Tijuana und San Diego. Seitdem die US-Regierung die Grenze zu einem Ort der Kriminalität erklärt hat, aber auch angesichts der Grenzschließungen und neuen Grenzbefestigungen, die wir derzeit weltweit beobachten, scheint ihre Arbeit wichtiger denn je. Ende Juni referierten sie in Prag auf der ReSITE Konferenz über global closure, den Konflikt als Werkzeug und die Kraft der Öffentlichkeit. Friederike Meyer traf Teddy Cruz anschließend zum Gespräch.
Herr Cruz, Sie arbeiten in den Einwandererquartieren an der mexikanischen Grenze in den USA. Was genau machen Sie dort?
Die informellen Siedlungen sind marginalisiert, weil die Politik sie vergessen oder an ihnen vorbei gearbeitet hat. Wir können viel von deren Praktiken des Überlebens lernen. Zum Beispiel, wie in den Vororten von San Diego ein kleines Geschäft in einer Garage aufgezogen wird oder eine nicht angemeldete kleine Wohneinheit entsteht, um den Bedarf einer wachsenden Großfamilie zu decken. Dieser Umgang mit Raum und das Umgehen von Grenzen hat eine unglaublich inspirierende Dynamik. Das ist Stadtentwicklung aus dem gesunden Menschenverstand heraus. Wir versuchen, diese emanzipatorischen Alltagspraktiken sichtbar zu machen und sie gegenüber den politischen Institutionen zu repräsentieren, um diese Gemeinschaften zu schützen.
Wie sieht das konkret aus?
Wir veranstalten Workshops in den Gemeinden, führen Gespräche über Flächennutzung, über das Verständnis von Dichte, über Nutzungsmischung, über die Rolle von Planung. Oft verbergen die Planungsinstrumente der Behörden und Entwickler ihre Herkunft. Wir aber wollen, dass die Bewohner die Entwicklungen verstehen lernen, dass politische Prozesse sichtbar werden.
Was hat das mit Architektur und Planung zu tun?
Unsere Rolle als Planer besteht nicht nur darin, physische Dinge zu entwerfen, sondern Prozesse und institutionelle Macht neu zu organisieren. Wir begreifen uns als Übersetzer und Förderer des Wissens und der kreativen Intelligenz von Gemeinschaften. Wir glauben, dass Konflikte ein Mittel sein können, die Debatte innerhalb von Gemeinschaften zu beleben und Mechanismen zu visualisieren, die die jeweilige Situation verursacht haben. Wir versuchen, die Bewohner für eine Agenda zu begeistern, die weniger durch Konsens gekennzeichnet ist, sondern dadurch, dass sie die Probleme beim Namen nennt
Sie arbeiten mit Gemeinden auf beiden Seiten der Grenze seit mehr als anderthalb Jahrzehnten zusammen. Inwiefern ist Ihre Herangehensweise auf andere Länder und Regionen übertragbar?
Einerseits plädieren wir für eine Lokalisierung des Globalen, um den Besonderheiten, die in einer bestimmten Nachbarschaft eingeschrieben sind, gerecht zu werden. Aber gleichzeitig erarbeiten wir auch ein Instrumentarium, das uns in die Lage versetzt, global zu handeln. Das Wichtigste ist immer der Vertrauensbildungsprozess unter den beteiligten Akteuren. Ich erlaube mir zu behaupten, dass für die heutige Diskussion in Europa viele der Erfahrungen mit unserer Grenzregion nützlich sein können.
Wie sehen Sie die aktuelle Entwicklung in Europa?
In den USA und auch in Europa lässt sich ein Rückzug des Öffentlichen feststellen. Viele Jahre sah ich Europa als Ort für progressives Denken, für sozialdemokratische Modelle der Stadtentwicklung, wo Vorstellungen von Stadt mit einer robusten sozialen Infrastruktur verbunden sind. Aber das ist aufgeweicht. Ich sehe Europa nicht länger als Vorreiter.
Wer sind heute die Vorreiter einer in Ihrem Sinne gerechten Stadtentwicklung ?
Inspirierendes erfahre ich heute in Kolumbien, in Medellín oder Bogotá, wo Regierungen sich selber neu erfunden und eine neue Form zivilgesellschaftlicher Partizipation und Inklusion gefunden haben. Medellín hat in den letzten Jahren eine unglaubliche Transformation durchlaufen. Einer der größten Treiber dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass Wasser- und Energieversorgung und die Telekommunikation in kommunaler Hand sind. 40 Prozent der Einnahmen fließen zurück in die öffentliche Infrastruktur, in gesellschaftlich wichtige Projekte. Steuern zu zahlen ist eine Bürgerpflicht, keine Strafe. Eine progressive Besteuerung ist das wesentliche Element für eine gerechte Stadt. Politik ist nur dann erfolgreich, wenn ihr bewusst ist, dass das Überleben des Einzelnen vom gesunden Zustand des Kollektiven abhängt.
Sie haben einmal gesagt: Architektur ist heute häufig bloße Dekoration einer selbstsüchtigen, nach Öl dürstenden Gesellschaft von China über Dubai bis New York, ein Mittel, politische Macht zu tarnen. Das ist eine harte Kritik.
Natürlich macht da nicht jeder Architekt mit. Ich beziehe mich auf die Tatsache, dass Architekten indifferent gegenüber gesellschaftlichen und politischen Prozessen bleiben, die Exklusion voranbringen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Architekten in bestimmten Epochen ihre Kreativität an die soziale Wirklichkeit gebunden haben. In jüngerer Zeit beobachte ich eher einen Rückzug der Profession aus der politischen Realität. Architekten sind nicht mehr die Produzenten einer neuen architektonischen und ästhetischen Praxis, die sich aus der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ergeben hat. Die Mehrheit der Architekten scheint sich dem Projekt Schönheit verschrieben zu haben. Architekten sind zu Dekorateuren, Architektur ist zu einem Camouflage-Instrument der ökonomischen Macht geworden. Wenn wir aber unsere Aufmerksamkeit wieder auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse legen, betreten wir vielleicht auch ein neues Zeitalter der Ästhetik: soziale Verantwortung und künstlerisches Experiment zu vereinen. Diese Beziehung war die Grundlage der Avantgarde.
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Michael Goj
Zum Thema:
Teddy Cruz ist ein amerikanischer Architekt und Stadtplaner. Zusammen mit der Politologin Fonna Forman betreibt er ein Architektur- und Planungsbüro an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze zwischen Tijuana und San Diego (Estudio Teddy Cruz + Fonna Forman). In den dortigen Einwandererquartieren untersuchen sie die Rolle informeller Urbanisierung. Sie sind überzeugt davon, dass in einer Zeit, in der öffentliche Einrichtungen vielerorts erodieren, gerade diese Quartiere neue Leitbilder für die Stadt hervorbringen können.