Was hat der Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde mit dem Berliner Schloss zu tun? Einer sich hartnäckig haltenden Legende zufolge stammen die Spolien im Affengehege des 1955 eröffneten Ostberliner Zoos aus den Trümmern des fünf Jahre zuvor gesprengten Barockbaus. Die Geschichte stimmt nicht ganz, denn es handelt sich vielmehr um Fassadenreste kriegszerstörter Stadthäuser. Fakt ist jedoch, dass die Bronzelöwen vor dem Raubtierhaus einst das (ebenfalls 1950 demontierte) Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal an der sogenannten Schlossfreiheit zierten. Maßgeblich beteiligt an der Gestaltung der Tiergehege in Friedrichsfelde war übrigens
Heinz Graffunder, auch bekannt als Chefarchitekt vom Palast der Republik, der in den 1970er Jahren anstelle des einstigen Schlosses entstand. Und der wiederum 30 Jahre später einer
Schlossrekonstruktion weichen musste. Einer Wiedererrichtung, die in ihrer verklärenden Kulissenhaftigkeit genauso aus der Zeit gefallen wirkt, wie die bühnenhafte Inszenierung der historisierenden Versatzstücke im Tierpark.
Räume und Situationen, in denen verschiedene historische Zeitebenen derart kollidieren und einander durchdringen, bezeichnet der 1971 in Karlsruhe geborene Künstler
Eiko Grimberg als „Gelenkstücke der Geschichte“. Anhand des Mediums Fotografie und in Form visueller Essays setzt er sich immer wieder mit Orten und Architekturen auseinander, die von den Ideologien und Ereignislinien des 20. Jahrhunderts erzählen – und davon, welch absurde Volten die Historie schlagen kann. Mit ruhigen, detailreichen Bildern und überraschenden Gegenüberstellungen analysiert Grimberg in seinem aktuellen Buch
Rückschaufehler die Bruchstellen, Widersprüche und Verflechtungen, die in den letzten Jahrzehnten am Standort des Berliner Schlosses zutage traten. In ihnen hallt der probematische Wunsch vom nachträglichen Umschreiben der Geschichte wider.
Seit 2011 hat Grimberg den kontrovers diskutierten Wiederaufbau auf der Spreeinsel mit seiner Kamera dokumentiert. Dabei beschränkte er sich nicht allein auf das eigentliche Stadtschloss-Projekt. In sein Blickfeld gerieten auch das Nikolaiviertel, Neubauten wie die
James-Simon-Galerie und die mittlerweile schon wieder verschwundene
Bauakademie-Attrappe. Außerdem ging er legendenhaften Verweisen sowie konkreten Spuren verschiedener Objekte und Materialien aus dem näheren Umfeld des Schlosses und des Palastes nach, die von hier aus an verschiedene Stellen der Stadt wanderten.
Mit dem pünktlich zur Eröffnung des neuen Humboldt Forums im Dezember 2020 veröffentlichten Fotoband liegt nun das auf 116 Seiten komprimierte Resultat dieses Langzeitprojekts vor. Der titelgebende Begriff stammt aus der Kognitionspsychologie: Er steht für einen systematischen Urteilsfehler, bei dem eine Person retrospektiv annimmt, ein bestimmtes Ereignis richtig vorhergesehen zu haben und bereit ist, ursprüngliche Aussagen so umzudeuten, dass sie zum tatsächlichen Ergebnis passen – eine Methode, die zuverlässig verhindert, aus Fehlern zu lernen.
Die assoziativ fließende Bildstrecke des Buches springt nicht nur zwischen Orten, sondern auch zwischen Epochen hin und her und knüpft so ein dichtes Netz von Bezügen. Nahaufnahmen von Gebäuden und Bodenflächen zeigen, wie brachial sich historische Ereignisse und der Verlauf der Zeit im Baumaterial niederschlagen: Einschusslöcher, fehlende Teile, aufsteigende Feuchtigkeit, Risse. Unmittelbar daran anschließend: die glatten, ges(ch)ichtslosen Beton-, Putz- und Glasoberflächen der Gegenwart, der illusionäre Charakter von Bauplanenankündigungen. Ein Index bietet zu den einzelnen Bildern fragmentarische Erläuterungen und Kommentare. Er umfasst ausschließlich Zitate aus architektonischen, wissenschaftlichen, literarischen sowie behördlichen Abhandlungen, auf die Grimberg während seiner Recherche stieß. Zum Beispiel folgender Gedanke des Filmemachers
Hartmut Bitomsky, der an dieser Stelle nachklingen soll: „Geschichte ist aber auch all der Schrott, der verflossen ist, der nichts taugte, Geschichte ist auch dieses große Austrocknen, Absterben, Vergehen, Vergessen, Verdrängen und Aufräumen.“
Text: Diana ArtusRückschaufehlerEiko Grimberg
116 Seiten
Kodoji Press, Baden 2020
ISBN 978-3-03747-102-9
28 Euro