Als SANAA den Entwurf für das Maritime Museum im chinesischen Shenzhen vorstellte, entbrannte unter den BauNetz-Kommentator*innen eine Diskussion, inwieweit Architekt*innen von diktatorischen Systemen instrumentalisiert werden oder sich instrumentalisieren lassen und ob sich durch Architektur Gesellschaft auch positiv verändern ließe. Erneut an Brisanz gewinnt diese Frage bei der Bauaufgabe der Reform and Opening-up Exhibition Hall, wiederum in Shenzhen: Das Museum ist der Reform- und Öffnungspolitik Chinas gewidmet. Mit Sou Fujimoto Architects (Tokio) gewann den Wettbewerb wieder ein japanisches Büro.
Zur Bauaufgabe: Die Reform- und Öffnungspolitik Chinas steht für die wirtschaftliche Neuausrichtung im Sinne einer „sozialistischen Marktwirtschaft“. Die unter Deng Xiaoping eingeführten Programme begannen 1978, wurden aber durch das Tian’anmen-Massaker 1989 jäh unterbrochen und nahmen erst mit Dengs berühmter Südtour 1992 wieder Fahrt auf. 2010 überholte China Japan als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Shenzhen, der vor gut 40 Jahren gegründete Freihandelszonen-Doppelgänger von Hongkong, steht sinnbildlich für diese Entwicklung. Im Pressestatement der Architekt*innen heißt es zur Funktion des Gebäudes: Es „wird ein ‚Fenster‘ sein, das die Errungenschaften der Reform und Öffnung zeigt und bekannt macht, ein Ort, der bedeutende Gäste empfängt, eine Institution, die Beweise und Forschungsmaterialien sammelt, ein Wahrzeichen, das die […] Modernisierung der Stadt präsentiert, und ein Träger, der die öffentliche Kultur und urbane Zivilisation von Shenzhen vorstellt.“
Zur Architektur: Das Projekt liegt im Futian District, an der Nordseite der Shennan Avenue, eingebettet in eine Parklandschaft mit großem Vorplatz. 90.000 Quadratmeter Baugrund stehen zur Verfügung. Der Entwurf zeigt einen ikonisch in den Stadtraum eingebetteten Kubus mit transluzenter Hülle. Fassaden und Dach werden aus einem quadratischen Raster gebildet, in dem verzweigte Strukturen ein komplexes Muster bilden, die Verglasung lässt viel Licht ins Innere. Dort entfalten sich mehrere freistehende Einzelbauten über aufgestockten Erdgeschossen. Die Baukörper umschließen einen inneren Platz und sind auf unterschiedlichen Niveaus durch geschwungene Brücken verbunden. Große Treppen, auskragende Balkone, hohe Stützen und Baumbestand auf allen Etagen sorgen für eine spektakuläre Wirkung und lassen eine komplexe Raumkomposition entstehen. Die Architekt*innen sprechen von einer dorfähnlichen Landschaft und von „Gärten in einer Box“.
Geschichtsklitterung scheint in diesem Museum vorprogrammiert, Ereignisse wie das Tian’anmen-Massaker und Menschenrechtsverletzungen werden sicher nicht ausgestellt. Die Fragen: Wiegt architektonische Qualität mehr als die politisch aufgeladene Funktion des Baus? Welche Maßstäbe kann man beim Bau an den politischen und ideologischen Kontext anlegen? Und überhaupt: Wo fängt die Verantwortung des Architekten an, wo hört sie auf? (stu)
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Marie | 18.06.2021 21:53 UhrOb für öffentliche oder private für Baufrauen und -herren...
Ist Architektur nicht per se eine politische Disziplin?