Aus großer Distanz nah herangeholte Fragmente von fast schon generischen Felsmassiven, in die sich architektonische Konstruktionen einschreiben: Berg und Beton sind untrennbar miteinander verschmolzen, Umwelt und Gebautes keine Gegensätze mehr, sondern sich gegenseitig bedingende Einflussgrößen. Das Thema des Anthropozäns, in dem der Mensch auf planetarer Ebene zum bestimmenden geophysikalischen Faktor geworden ist, zieht sich wie ein roter Faden durch die neue Publikation Silent Transition von Architekturfotograf und Künstler Georg Aerni.
Da sind Treib- und Gewächshäuser aus Plastik, die sich in Spanien über endlose Landschaften legen. Die aus Ziegel und Zement errichteten Vorstädte von Kairo, die jedes Jahr weiter fruchtbares Schwemmland des Nils versiegeln. Die Stratografien der Steinbrüche mit präzise herausgeschnittenen Quaderbändern. Man sieht einfache Gewerbebauten und Silos, Lagerplätze und Lawinenbrecher, Kanäle und Reservoirs, aufgeständerte Autobahnen und gigantische Hochhaussiedlungen. Viel Stahlbeton. Der Grund dieser tiefen Durchdringung der Umwelt, der Mensch, er fehlt auf Aernis Bildern dagegen völlig. So entsteht der Eindruck zukünftiger Ruinen, die seltsame Stimmung einer verlassenen Erde.
Wie der titelgebende stille Übergang andeutet, verweisen die fotografisch eingefrorenen Situationen auf die (nicht darstellbare) Tiefenzeit: Erdgeschichtlich gesehen in einem Wimpernschlag hat unsere Spezies die Welt großflächig umgegraben, ungezählte Kubikmeter an Material verschoben und die sich über Jahrmillionen, gebildeten chemischen Zusammensetzungen unseres Planeten – Kohle, Öl, Kalkstein, Mineralien et cetera – abgebaut, umgeformt und verfeuert. Es sind Bilder, die von einer ungemeinen, mitunter gewaltvollen Energie künden.
Aernis Auge bleibt dabei stets ruhig und unaufgeregt. Die Fotografien haben nichts Anklagendes oder gar Aktivistisches. Die aufeinanderfolgenden Serien sind auch nicht mit einem stringenten Narrativ verknüpft, als Verbindung fungieren vielmehr in den Landschaften vorkommende Strukturen, die eine zeichenhafte Präsenz entfalten. So führt der Weg von Wurzelgeflechten über eine zusammengefallene Scheune zu einem geschichteten Schieferdach. Und immer mal wieder Detailansichten von scheinbar Alltäglichem oder Abseitigem. Anmaßend wäre die Idee, diese Bilder mit einer metaphorischen Bedeutung zu überfrachten. Sie zeugen vom neugierigen Blick des Fotografen als Beobachter: Die Welt als Spiel von Form und Farbe.
Zur allgemeinen Unaufgeregtheit passt auch, dass – bei Ausstellungskatalogen eher selten – der Textteil auf ein Minimum reduziert ist. Abgesehen von einem kurzen Geleitwort Peter Pfrunders und einem kaum längeren Essay Sabine von Fischers sind die insgesamt 191 Seiten ausschließlich den Aufnahmen Aernis vorbehalten. Fast alle finden auf einer eigenen Seite Platz, die sich bei dem großzügigen Format von 24 mal 33 Zentimeter ausgiebig entfalten können. Selbst auf Untertitel wurde verzichtet, eine Werkliste am Ende des Buches gibt einen Überblick.
Die Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung „Georg Aerni – Silent Transition“ in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur, die von 11. Juni bis 16. Oktober 2022 zu sehen sein wird. Es ist Aernis erste umfassende Monografie seit der Publikation Sites & Signs aus dem Jahr 2011.
Text: Alexander Stumm
Georg Aerni. Silent Transition
Nadine Olonetzky und Peter Pfrunder (Hg.)
Deutsch und Englisch
191 Seiten
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2022 (in Zusammenarbeit mit Codax Publisher, Zürich)
ISBN 978-3-03942-074-2
48 Euro