Geht das? Kann man ein Krematorium als Kunst- und Veranstaltungsort neu nutzen? Kann man sich neben den Türen der Verbrennungsöfen oder neben den Wandnischen, in denen früher Urnen standen, auf die ausgestellte Kunst konzentrieren, einem Vortrag lauschen oder einen Film genießen, vielleicht sogar einen frohen, lustigen?
Man kann. Jedenfalls in Berlin, der selbsternannten Hauptstadt kultureller Umnutzungen, die auch vor einem Gebäude nicht halt macht, das 1912 im Wedding als erstes Krematorium der Stadt eröffnet wurde und das schwer umstritten war. Der „Verein für Feuerbestattung“ hatte damals sowohl gegen die Stigmatisierung durch die Kirchen als auch gegen Ängste von Bürgern und Anwohnern vor Feuer und herumschwebender Asche zu kämpfen. Wirkt die Anlage in der Gerichtstraße deshalb so verschlossen? Der Weg führt durch ein schmales Eingangsportal in einen Vorhof mit Brunnen und Wandelgang, Stufen führen hinauf ins Hauptgebäude. Zentrum des Hauses ist die 17 Meter hohe Urnenhalle über achteckigem Grundriss. Die Anlage wirkt zurückgezogen und vorsichtig, als ob sie sich schützen oder etwas verheimlichen möchte. Eine Mischung aus kleiner Festung und Kloster.
Der Architekt des Krematoriums war William Müller, ein Schüler Alfred Messels und Mitarbeiter bei Ludwig Hoffmann. Müller suchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem angemessen würdevollen Ausdruck für die neue Bauaufgabe. Von ihm stammt auch das fast zeitgleich erbaute Krematorium in Dessau. Neben der Formensprache der Architektur erzählt vor allem der Bauschmuck von dieser Suche nach einer weltlichen Symbolik für ein fernes, übersinnliches Danach. Die antik wirkende Frauenfigur über dem Hauptportal, die beiden Greifen, die das Eingangstor bewachen, oder die Schlange im Terrazzo-Boden der Haupthalle – alles bleibt ambivalent und vieldeutig. Christen können sich davon ebenso angesprochen fühlen wie Konfessionslose.
Es ist das große Verdienst der Autorin und Kunsthistorikerin Jutta von Zitzewitz, die dieses Buch im Auftrag der jetzigen Nutzer – dem Kulturquartier Silent Green – zusammen gestellt hat, dass man das Gebäude als ein gebautes Stück Kultur- und Stadtgeschichte zu lesen lernt. Ihre ebenso spannende wie dichte und dabei detailtiefe Erzählung folgt den vielfältigen Fäden der Feuerbestattung vom Kaiserreich durch die Weimarer Republik bis zur Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus, als die umstrittene Feuerbestattung plötzlich zur „urgermanischen Sitte“ umgedeutet und das Krematorium durch den Architekten Wilhelm ten Hompel zur Kultstätte umgestaltet wurde. In der geteilten Stadt wurden hier bis zum Mauerbau die Toten aus Ost und West gleichermaßen eingeäschert. 1961 fand hier die private Trauerfeier für das erste Maueropfer, Ida Siekmann, statt. In den 1990er-Jahren entstand mit den Neubauten der Krematorien in Wilmersdorf und Treptow ernste Konkurrenz für das alternde Gebäude im Wedding, das damals noch eine unterirdische Leichenhalle sowie ein vollautomatisiertes Sargregal mit Platz für 817 Särge bekam. 2002 wurde das Gebäude dennoch geschlossen.
Seit 2013 hat das ehemalige Krematorium als Kulturquartier Silent Green mit 13 neuen Mietern geöffnet. Die Besucherzahlen sind gut. Zu verdanken ist diese Neubelebung der Initiative von Bettina Ellerkamp und Jörg Heitmann. Sie tragen das Berliner Umnutzungs-Gen der Nachwendezeit in sich. Noch während des Studiums landeten beide 1990 mit einem Haufen Freunde im besetzten WMF, gründeten einen Kunstverein und machten „Kunst, Filme und Partys“, wie sie in einem ausführlichen und ausgesprochen lesenswerten Gespräch im Buch erzählen. Es sind die verspielten Biografien, die Ideen und Netzwerke aus dem Berlin der 1990er-Jahre, ohne die sich heute der Mut nicht erklären ließe, ein immerhin 6.000 Quadratmeter großes und denkmalgeschütztes, ehemaliges Krematorium als Veranstaltungsort neu nutzen zu wollen.
Dass ein Gebäude, das auf seine ganz besondere Weise über 100 Jahre Berliner Stadtgeschichte in sich aufgenommen hat, mit neuen Nutzern wie dem Musicboard Berlin, dem Label K7!, dem Kunstraum SAVVY Contemporary, dem Harun Farocki Institut oder dem Filmarchiv des Arsenals dauerhaft öffentlich zugänglich gemacht werden konnte, ist sehr erfreulich – ebenso wie dieses wunderbar gemachte, an Geschichte und Geschichten überaus reiche Buch, das sich mit einer reinen Architekturgeschichte zum Glück nicht zufrieden gibt.
Text: Florian Heilmeyer
Silent Green. Vom Krematorium zum Kulturquartier
Jutta von Zitzewitz
hrsg. vom silent green Kulturquartier
Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2017
244 Seiten
ISBN 978-3-422-07442-2
14,90 Euro