Die belgische Stadt Gent pflegt eine Tradition des Turmbaus: Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurde die Skyline von den drei mächtigen, mittelalterlichen Türmen der Sint-Niklaas-Kirche, der Sint-Baafs-Kathedrale und dem 91 Meter hohen Glockenturm der Stadt beherrscht, der nicht nur der höchste von Belgien ist, sondern auch als besonders sicheres Stadtarchiv dient. Als also 1933 der Architekt
Henry Van de Velde (1863-1957) beauftragt wurde, auf einem hochgelegenen Grundstück eine Universitätserweiterung mit Bibliothek zu entwerfen, kam es nicht ganz überraschend, dass sein Entwurf auch einen 64 Meter hohen „Bücherturm“ vorschlug. Gebaut wurde dieser erste moderne Turm zu Gent von 1933-1954 in Eisenbeton, mit viel Sichtbetonflächen und damals noch ganz neuer Gleitschalung. Schon zur Eröffnung 1942 gehörte der
Boekentoren zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war eine umfassende Modernisierung bereits überfällig. Zum Turm gehört auch ein großes, meist dreistöckiges Gebäude, das einen großen Innenhof umfasst. Insgesamt verfügt der Komplex über gut 20.000 Quadratmeter Nutzfläche. Alleine die Bücher, Grafiken und Drucksachen der Bibliothekssammlungen umfassen über drei Millionen Objekte, die sich wohl zu einer Gesamtlänge von 46 Kilometern addieren ließen. Um die geeigneten Architekt*innen für die Modernisierung zu finden, entschied sich die Stadt 2006 dafür, mit dem Flämischen Baumeister einen „Open Call“ auszuschreiben. Ein interdisziplinäres Team um
Robbrecht en Daem Architecten (Gent) gewann, auch
SumProject (Statik und Konstruktion),
BARO (Ausführungsplanung) und
Barbara Van der Wee (Landschaftsplanung) gehörten dazu.
Sie schlugen eine Sanierung vor, mit der die Gebäude weitgehend auf ihren Originalzustand zurückgeführt werden sollten. Die Arbeiten begannen 2012 und konnten 2021 abgeschlossen werden. Die notwendige moderne Gebäudetechnik bleibt unter den restaurierten Oberflächen verborgen. Dem Hauptgebäude um den weiträumigen Innenhof wurde seine „klösterliche“ Ruhe zurückgegeben, indem die Studienräume und Büros in andere Teile verlegt wurden. Rings um den Hof liegen nun vor allem die Lese- und Studienräume. Ein neuer Eingangspavillon sortiert die Besucherströme und bietet direkten Zugang sowohl zum Café als auch zu den digitalen Arbeitsplätzen. Ein sicheres und klimatisiertes Depot für die Dokumente und Sammlungen wurde auf drei neuen, unterirdischen Geschossen unter dem Innenhof angelegt. Im gesamten Gebäude brachte neue Klimatechnik und Brandschutz unter. Dabei wurden alle Oberflächen entfernt, gereinigt, repariert und anschließend wieder eingefügt, während spätere, nicht-ursprüngliche Bauteile oder Beschichtungen entfernt wurden.
Die Architekt*innen beschreiben ihre Strategie so: „Wir haben alles verändert, damit es nachher aussieht, als habe sich überhaupt nichts verändert.“ Das gilt auch für den Bücherturm, dessen Belvedere auf den obersten Geschossen nicht nur einen wunderbaren Ausblick über Gent bietet, sondern nun zum ersten Mal öffentlich zugänglich ist – wenn auch fürs Erste nur im Rahmen einer vorher online gebuchten Führung. Die Modernisierung kostete insgesamt 34 Millionen Euro.
(fh)
Fotos: Stijn Bollaert (aktuelle Aufnahmen), Emile Sergysels (historische Aufnahmen)
Zum Thema:
Mehr zum Thema „Open Call“ des Flämischen Baumeisters in der BAUNETZWOCHE#557 „Das Wunder von Flandern – 20 Jahre Open Oproep“
Dieses Objekt & Umgebung auf BauNetz-Maps anzeigen:
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
1
solong | 03.12.2021 10:02 Uhrproportionen und gestaltungswille
der bauten um 1930 sind immer wieder beeindruckend ... design matters ... anstelle diesem hilflosen rumgewurschtel ala "seminarhaus" in einer anderen meldung dieses tages ...