Von Jeanette Kunsmann
So wie Haruki Murakami Weltliteratur geschaffen hat, baut das japanische Studio SANAA Weltarchitektur. 1995 von Kazuyo Sejima – die, bevor sie sich 1987 selbstständig machte, zuvor bei Toyo Ito gearbeitet hatte – und dem damals noch jungen Absolventen Ryue Nishizawa unter dem einfachen, aber einprägsamen Akronym SANAA Sejima And Nishizawa And Associates gegründet, werden beide nur 15 Jahre später für ihr Werk mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Zu Recht. Und dass Ryue Nishizawa mit 44 Jahren der bisher jüngste Pritzker-Preisträger wurde und immer noch ist (Alejandro Aravena ist schon 49), zeigt einmal mehr, dass so ein hochdotierter, renommierter Preis nicht immer am Ende einer Karriere stehen muss. Am 7. Februar 1966 in Kanagawa geboren, feierte der japanische Architekt Ryue Nishizawa gestern seinen 50. Geburtstag; Kazuyo Sejima wird am 29. Oktober 60 Jahre alt. Zusammen sind sie also 110 – alt und weise wie eine Schildkröte. Dass beide Architekten neben dem gemeinsamen Studio fast genauso lange parallel eigene Büros führen, macht SANAA unabhängiger und beweglicher.
Nishizawa und Sejima schaffen keine Räume, sondern Atmosphären, was das internationale Publikum 2010 auf der Architekturbiennale in ihrer Ausstellung „People meet in Architecture“ erleben konnte. „Ihre Bauten stehen im Kontrast zum Bombastischen und Rhetorischen, die wahre Qualität liegt tiefer verborgen“, lobte im selben Jahr das damalige Pritzker-Preis-Komitee, in dem übrigens neben den beiden Architekten beiden Shigeru Ban und Renzo Piano auch der diesjährige Biennale-Direktor und Pritzker-Preisträger Alejandro Aravena saß. „Wie nur wenige andere Architekten erforschen Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa die Phänomene Raumfluss, Licht, Transparenz und Materialität, um daraus eine ganz eigene, subtile Synthese zu erschaffen.“ Das sind große Worte, die umschreiben, was fast jeder ahnt, aber eben schwer auszudrücken bleibt. Wahrscheinlich gehört das ebenfalls zum Phänomen SANAA: Man kann kaum über ihr Werk sprechen, ohne Nishizawa und Sejima nicht zu loben. Die japanischen Architekten bleiben sogar dann sympathisch, wenn man an die Gerüchte aus dem schonungslosen Büroalltag im Hause SANAA denkt. Doch von nichts kommt nichts, und am Ende gehören zwei Seiten zu solcher Art Geschichten.
Ähnlich wie ihr Büroname wollen auch ihre Projekte nicht mehr sein, als sie sind – und vielleicht ist es gerade diese kluge Bescheidenheit, die so fasziniert. Der elegante Kubus mit der ungewöhnlich dünnen, aber tragenden Betonfassade für die einstige Designschule der Zeche Zollverein in Essen (2006 gebaut, 2008 geschlossen) oder die gestapelten Boxen für das Museum for Contemporary Art in New York (2007). Danach wurde es runder, fließender: SANAAs filigraner Sommerpavillon für die Serpentine Gallery (2009), der dynamische Neubau für das Rolex Learning Center in Lausanne (2010), die schwebende Leichtigkeit der Louvre-Dependance in Lens (2012), das weißstrahlende, fast kreisrunde Logistikzentrum auf dem Vitra-Campus in Weil am Rhein (2013) oder das fließende Dach für die Grace Farm in Connecticut (2015): Alles keine Landmarken, keine Ikonen, keine Stararchitektur. Jedes Gebäude ist eine Behauptung – Architektur wird im besten Fall gebaute Philosophie.
Transparenz müsse man nicht sehen, sondern fühlen, hat Ryue Nishizawa einmal gesagt. Und der Versuch, ihre Gedanken oder Bauten zu durchdringen, bleibt ein Versuch – SANAAs Entwürfe, selbst der Hallenbau für Vitra, sind kaum greifbar. „Wir konzentrieren uns auf die Essenz“, sagt Kazuyo Sejima. „Das ist das Wichtigste für uns, und die Essenz eines Raumes ist nun mal weiß. Noch reduzierter geht es nicht, dann wäre unsere Architektur wahrscheinlich durchsichtig und unsichtbar.“ Wie dick wird eine Wand, wie viel wiegt eine Tür? Neben diesen Fragen der Proportion, des Materials und der Geometrie verstehen Nishizawa und Sejima ihre Arbeit als eine wiederkehrende kritische Auseinandersetzung mit der Welt und setzen dabei alles in Relation. Die Beziehungen zwischen Innen und Außen, zwischen Haus und Stadt, Architektur und Natur, zwischen Grenze und Reflektion werden stets hinterfragt, untersucht und in neugebaute Experimente übersetzt. Ein weiterer Gedanke, der in all ihren Bauten wiederkehrt: Die Freiheit der Funktion. Ein Gebäude kann eine Nutzung bestimmen, aber auch die Nutzung ein Gebäude.
Es sind aber nicht nur gebaute Atmosphären – Sejima und Nishizawa schaffen mit ihrem Werk auch eine permanente Sehnsucht. Denn formal lassen sich die SANAA-Bauten nur schwer nachahmen, auch wenn andere es immer wieder versucht haben: Es bleibt ein klägliches Scheitern, erinnert man sich nur an all die betonierten Kubuskopien mit den zufällige angeordneten Fensterquadraten in willkürlichen Formaten. Und so, wie sich nur schwer vorhersagen lässt, was SANAA als nächstes bauen werden, kann man auch keine eindeutige Handschrift identifizieren. Aktuell arbeiten Sejima und Nishizawa an einem Museumsneubau für die ungarische Nationalgalerie in Budapest – ein Entwurf, der sich nur als fertiggestelltes Gebäude beurteilen lassen wird. Glaubt man nämlich den Visualisierungen, wollen SANAA in Budapest papierdünne Dächer auf filigranen Stützen tanzen lassen. Klingt mehr nach einem Spaß als nach Architektur. Aber auch Humor darf weder in Japan noch in Ungarn mehr als das Dach eines Hauses wiegen. Statt weiterem Lob steht am Ende ein Fragezeichen.